Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
seinem Leben etwas fühlen.
Etwas anderes als Wut oder Hass.
Was übrig bleibt
K aum etwas zieht den Menschen so sehr in den Bann wie die Abgründe der menschlichen Seele. Die unfassbare Brutalität, die manche Zeitgenossen gegenüber ihren Mitmenschen an den Tag legen, und die Kälte, mit der etliche Täter ihre Gewaltverbrechen begehen, sind für viele von uns ein Faszinosum. Gerade diejenigen, die sich strikt an Normen und Gesetze unserer Gesellschaft halten, sind von der Psychologie und den Taten derer fasziniert, für die keinerlei Regeln zu gelten scheinen. Das ist die Faszination des Bösen, der Verbrechen, die sich in unserer Mitte ereignen und die über die Betroffenen wie ein zerstörerischer Wirbelsturm hinwegfegen.
Wie Sie in den vorangegangenen Kapiteln lesen konnten, haben wir es in der Rechtsmedizin aber nicht immer nur mit grellen Mordgeschichten zu tun, die von den Boulevardmedien entsprechend ausgeschlachtet werden. Und oftmals bleiben mir gerade die stillen Tragödien, die sich meist unbemerkt von der Öffentlichkeit abspielen, lange in Erinnerung, manche von ihnen vielleicht bis zum Ende meines Lebens. Gerade wenn Kinder vor einem auf dem Obduktionstisch liegen – sei es, dass sie Opfer einer tödlichen körperlichen Misshandlung, eines Unfalls oder einer schweren inneren Erkrankung wurden –, bleibt man auch als erfahrener Rechtsmediziner nicht unberührt.
Immer wenn ein Kind eines nicht natürlichen Todes stirbt, ist ein Erwachsener daran schuld. Auf diese einfache Formel lässt es sich tatsächlich herunterbrechen. Kinder sind von Natur aus unternehmungslustig, nehmen alle Örtlichkeiten und alle Situationen als Anlass zum Spielen und lassen ihrer Neugier freien Lauf. Gerade kleinen Kindern ist nicht bewusst, wo überall tödliche Gefahren lauern. Deshalb sind wir als Erwachsene gefragt, ihnen diese Gefahren – sei es durch Höhe, Wasser, Autostraßen, Steckdosen oder Feuer – zu vermitteln und sie so gut es geht davor zu beschützen. Das wird mir und meinen Kollegen leider allzu oft schmerzlich bewusst. Aber dann ist es für das betroffene Kind immer zu spät.
Wenn Sie einige oder alle Kapitel dieses Buchs gelesen haben, werden Sie mir zustimmen, dass Rechtsmedizin in Wirklichkeit sehr viel facettenreicher ist als im Tatort oder generell in der Fantasie von Krimiautoren, die sich realitätsferne Verwicklungen ausdenken. Doch die Faszination der Fernsehzuschauer und Krimileser für die Rechtsmedizin kann ich absolut nachvollziehen: Auch ich bin jeden Tag aufs Neue von den Erkenntnissen begeistert, die Medizin, Technik, Labor und gesunder Menschenverstand zutage fördern können, und von den unerwarteten Wendungen, die ein Todesermittlungsverfahren plötzlich nehmen kann.
Damit wir unseren Beruf ausüben können, sind für uns Rechtsmediziner allerdings einige Persönlichkeitsmerkmale nicht nur förderlich, sondern unabdingbar: Wir müssen unvoreingenommen und gedanklich flexibel sein; wir dürfen uns nicht auf vorgefasste Meinungen oder Einschätzungen anderer verlassen, sondern müssen bereit sein, völlig unbefangen in einen Todesfall einzusteigen.
Ein befreundeter Jurist, der mich einmal einen Tag lang bei der Arbeit begleitete, hat mir gegenüber treffend beschrieben, was er verspürte, als der erste Tote, mit dem er auf dem Sektionstisch konfrontiert wurde, ausgerechnet ein Säugling war. Sein erster Impuls war »eine Mischung aus Wut und Zorn, denn ein Kind gehört nicht auf einen Sektionstisch«. Und er stellte sich als Jurist sofort die Frage, wer die Schuld daran trug, dass dieser kleine Körper vor uns lag.
Der Tod des sechs Monate alt gewordenen Säuglings hatte sich nachts ereignet. Aufgrund der Angaben der Kindesmutter geriet der von ihr getrennt lebende Vater des Kindes, der am Abend zuvor einige Stunden mit dem Jungen verbracht hatte, in den Fokus der Ermittlungen. Unverhohlen stand die Frage nach einem tödlichen Schütteltrauma im Raum. »Warum hat der Vater das getan?«, fragte sich mein Freund, der Jurist. Erst später, als wir uns über die Todesfälle des Tages und sein Erleben der Arbeit in der Rechtsmedizin austauschten, wurde ihm klar, dass er angesichts des toten Säuglings instinktiv Emotionen zugelassen hatte, die einen Rechtsmediziner unweigerlich seiner Objektivität berauben würden. Emotionen haben im Obduktionssaal und generell in der Rechtsmedizin nichts zu suchen. An meiner Stelle hätte er sicher darauf hingearbeitet beziehungsweise
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