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Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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Stelle. Tut mir leid. Ich hole Ihren Schlüssel.« Ich ging hinter den Busch, hob ihn auf und gab ihn ihm.
    »Vielen Dank«, sagte er. »Übrigens . . .« Er blieb stehen. Ich blieb auch stehen.
    »Hoffentlich platze ich da nicht in einen interessanten Krach rein«, sagte er. »Das täte ich nicht gern.« Er lächelte. »Aber nachdem wir beide Freunde von Miss Weld sind -
    darf ich mich vorstellen: ich heiße Steelgrave. Habe ich Sie nicht schon mal gesehen?«
    »Nein, Sie haben mich noch nicht gesehen, Mr. Steelgrave«, sagte ich. »Ich heiße Marlowe, Philip Marlowe. Es ist äußerst unwahrscheinlich, daß wir uns schon mal gesehen haben. Und, so komisch das klingt, ich habe noch nie von Ihnen gehört, Mr.
    Steelgrave. Und es wäre mir völlig gleichgültig, sogar wenn Sie Weepy Moyer hießen.«
    So ganz habe ich nie verstanden, warum ich das sagte. Es gab keinen besonderen Grund dafür, daß ich es sagte, außer, daß der Name irgendwo gefallen war. Eine seltsame Ruhe kam über sein Gesicht. Ein merkwürdig starrer Blick in seinen stillen Augen. Er nahm die Zigarette aus seinem Mund, betrachtete die Glut, schnippte etwas Asche ab, obgleich gar keine Asche zum Abschnippen dran war; er sprach mit niedergeschlagenem Blick: »Weepy Moyer. Merkwürdiger Name. Ich glaube nicht, daß ich ihn schon gehört habe. Ist das jemand, den ich kennen müßte?«
    »Nicht, wenn Sie nicht eine besondere Schwäche für Eisdorne haben«, sagte ich und ging fort. Ich ging die Treppe runter, hinüber zu meinem Auto, warf einen Blick zurück, bevor ich einstieg. Da stand er und sah zu mir hinunter, die Zigarette zwischen den Lippen. Aus dieser Entfernung konnte ich nicht sehen, ob sein Gesicht irgendeinen Ausdruck hatte. Er bewegte sich nicht und machte auch keinerlei Gesten, als ich zu ihm rüber sah. Er wandte sich nicht ab. Stand bloß da. Ich stieg ein und fuhr weg.

13
    Ich fuhr östlich des Boulevards, aber nicht nach Hause. An der La Brea Street bog ich nach Norden ab und von da zur Highland und hinaus über den Cahuenga Pass und wieder hinunter den Ventura Boulevard, vorbei an den Filmstudios und vorbei an den Siedlungen Sherman Oaks und Encino. Ich fühlte mich nie einsam bei diesem Trip. Man ist nie einsam auf dieser Straße. Schnelle Jungen in Fords mit nackten Fahrgestellen schossen aus den Kolonnen und wieder hinein, um Millimeter an einem Kotflügel vorbei
    - aber eben immer irgendwie vorbei. Müde Männer in ihren staubigen Cabrios oder Limousinen zuckten zusammen, faßten das Steuerrad fester und brummten weiter nordwärts oder westwärts nach Hause, zum Essen, vor sich einen Abend mit der Sportseite, mit dem knisternden Radio, mit dem Geplärr ihrer verwöhnten Kinder und dem Gequassel ihrer dummen Frauen. Ich fuhr vorbei an protzigen Neonreklamen und den falschen Fassaden dahinter, an den schmierigen Imbißstuben, die unter diesen Farben wie Paläste aussahen, vorbei an den kreisförmigen Drive-in-Lokalen, die sich fröhlich ausnahmen wie Zirkusse, mit den zirpenden Auto-Serviererinnen mit metallischen Augen, mit schimmernden Theken und den verschwitzten, fettigen Küchen, wo selbst Kröten sich vergiften konnten. Schwere Lastzüge donnerten die Sepulveda herunter, von Wilmington und San Pedro, und fuhren über die Brücke in Richtung auf die Kammstraße; von den Verkehrsampeln fuhren sie im ersten Gang los, brüllend wie Löwen im Zoo.
    Hinter Encino blinkte nur selten ein Licht von den Hügeln durch dichte Bäume. Die Häuser der Filmstars. Filmstars - bah. Die Veteranen von tausend Betten. Hör auf, Marlowe, heute abend bist du nicht menschlich.
    Die Luft wurde kühler. Die Straße wurde schmaler. Autos kamen jetzt so selten, daß die Scheinwerfer weh taten. Die Steigung ging hinauf, an Kalkfelsen entlang, und oben auf der Spitze, gerade vom Ozean her, tanzte eine Brise leichtfüßig durch die Nacht.
    In einem Lokal in der Nähe von Thousand Oaks aß ich zu Abend. Schlecht, aber schnell. Stopf sie und schmeiß sie raus. Mordsgeschäft. Wir können uns hier nicht damit aufhalten, daß Sie hier bei Ihrer zweiten Tasse Kaffee sitzen, Mister. Ihr Platz ist Gold wert. Sehen Sie die Leute da vorne hinter der Absperrung? Die wollen essen.
    Oder jedenfalls meinen sie, daß sie essen müssen. Weiß der Himmel, warum sie gerade hier essen wollen. Sie wären zu Hause besser dran, mit einer Büchse. Sie sind einfach ruhelos. Wie Sie. Sie müssen einfach ihr Auto rausholen und irgendwohin fahren. Genau die richtigen

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