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Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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war eine schlechtgelaunte Brünette mit Verachtung in den Augen und ein paar bösen Großaufnahmen, in denen sie fünfundvierzig Liegestützen rücklings machte - so energisch, daß sie sich leicht die Handwurzel brechen konnte. Mavis Weld spielte die zweite Heldin, und sie spielte sie gedämpft. Sie war gut, aber sie hätte zehnmal besser sein können. Aber wenn sie zehnmal besser gewesen wäre, hätte man die Szenen rausgenommen, um dem Star nicht zu schaden. Es war eine der saubersten Seiltänzereien, die ich je gesehen habe.
    Aber von jetzt an würde es kein Hochseil mehr sein, auf dem sie ging. Es würde ein Klavierdraht sein. Und sehr hoch gespannt. Und kein Netz würde darunter sein.

14
    Ich hatte einen Grund, ins Büro zurückzukehren. Ein Eilbotenbrief mit einem orangeroten Abholschein darin mußte inzwischen dort angekommen sein. Die meisten Fenster im Gebäude waren dunkel, aber nicht alle. Auch in anderen Geschäften arbeiten die Leute nachts. Der Liftmann sagte »'n Abend« aus der Tiefe seiner Kehle und schaukelte mich hoch. Im Korridor waren offene, erleuchtete Eingänge, wo die Putzfrauen noch immer den Abfall vieler nutzloser Stunden wegwischten. Ich ging um die Ecke, vorbei am gurgelnden Surren eines Staubsaugers, schloß mein dunkles Büro auf und öffnete die Fenster. Ich saß an meinem Schreibtisch und tat nichts, noch nicht mal denken. Kein Eilbrief. Der ganze Lärm des Gebäudes, abgesehen von den Staubsaugern, schien ausgelaufen zu sein, auf die Straße, und schien sich zwischen den kreisenden Rädern zahlloser Wagen verlaufen zu haben. Dann fing jemand draußen, irgendwo im Gang, zu pfeifen an - >Lilli Marleen< - elegant und virtuos. Ich wußte, wer das war. Der Nachtwächter, der an den Bürotüren rüttelte. Ich knipste die Deckenlampe an, und er ging vorbei, ohne zu rütteln. Seine Schritte entfernten sich, dann kamen sie wieder, mit einem anderen Geräusch, mehr schlurfend. Der Summer tönte im nächsten Büro, das noch nicht verschlossen war. Das mußte der Eilbriefbote sein. Ich ging raus, um ihn in Empfang zu nehmen, aber er war's nicht.
    Ein dicker Mann in himmelblauen Hosen zog die Tür zu, mit jener schönen Gelassenheit, die nur dicke Männer erreichen können. Er war nicht allein, aber ihn sah ich zuerst an. Es war ein Riesenmann und breit. Weder jung noch hübsch, aber er sah gut gebaut aus. Über den himmelblauen Gabardine-Hosen trug er eine zweifarbige Freizeitjacke, von der es einem Zebra übel geworden wäre. Am Hals war sein kanariengelbes Hemd weit offen, und mußte es auch sein, damit sein Hals durchkam.
    Er war ohne Hut, und sein großer Kopf war mit einer ausreichenden Menge lachsfarbenen Haars verziert. Die Nase war gebrochen, aber gut wieder zusammengewachsen, und ein Sammlerstück war sie sowieso nie gewesen.
    Die Kreatur neben ihm war eine kümmerliche Type mit roten Augen und Nasenschnüffeln. Alter etwa zwanzig, einssiebzig, dürr wie Bohnenstroh. Seine Nase zuckte, und sein Mund zuckte, und seine Hände zuckten, und er sah recht unglücklich aus.
    Der dicke Mann lächelte jovial. »Mr. Marlowe, oder irre ich?«
    Ich sagte: »Wer sonst?«
    »Es ist etwas spät für einen Geschäftsbesuch«, sagte der große Mann, und hinter seiner bedauernden Geste verschwand das halbe Büro. »Hoffentlich macht es Ihnen nichts aus. Oder sind Sie schon völlig ausgefüllt mit Ihren Geschäften?«
    »Spotten Sie nicht. Meine Nerven sind dünn«, sagte ich. »Wer ist denn der kaputte Typ?«
    »Komm mal her, Alfred«, sagte der große Mann zu seinem Kumpan. »Und zier dich nicht so.«
    »In die Bude von 'nein Bullen«, sagte Alfred zu ihm.
    Der dicke Mann wandte sich zu mir - die Milde selbst-. »Warum sagen diese Ganoven immer so was? Es ist nicht komisch. Es ist nicht witzig. Es bedeutet nichts. Ist schon ein Problem, dieser Alfred. Ich habe ihn weg von dem Stoff, Sie wissen schon - wenigstens zeitweise. Sag mal ~Guten Tag~ zu Mr. Marlowe, Alfred.«
    »In'n Arsch stecken«, sagte Alfred.
    Der dicke Mann seufzte. »Ich heiße Quaddel«, sagte er. »Joseph P. Quaddel.«
    Ich sagte nichts.
    »Na los, lachen Sie schon«, sagte der dicke Mann. »Ich kenne das schon. Ich habe den Namen schon so lange ich lebe.« Er kam auf mich zu mit ausgestreckter Hand. Ich nahm sie. Der dicke Mann lächelte lieblich in meine Augen. »In Ordnung, Alfred«, sagte er, ohne sich umzusehen.
    Alfred machte eine scheinbar geringfügige und unwichtige Bewegung; danach war ein schwerer automatischer Revolver

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