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Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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Augen.
    »Und jetzt - wie wär's, wenn Sie das gleiche täten - nur etwas ruhiger«, sagte sie.
    Ich holte ein Handtuch und rieb an dem Lippenrot auf meinem Gesicht. Es hatte genau die Farbe von Blut, frischem Blut. »Das kann jedem passieren«, sagte ich. »Ich hab sie nicht geknutscht - sie hat mich geknutscht.«
    Sie marschierte zur Tür und riß sie auf. »Zieh Leine, kleiner Träumer. Mach dich auf die Beine!«
    »Ich habe was mit Ihnen zu besprechen, Miss Weld.«
    »ja, kann ich mir vorstellen. Raus. Ich kenne Sie nicht. Ich will Sie nicht kennen. Und wenn ich das wollte, dann wäre das weder der Tag dafür noch die Stunde.«
    »Zeit und Ort und der Geliebte - nie sind sie alle zusammen«, sagte ich.
    »Was ist los?« jetzt versuchte sie, mit der Spitze ihres Kinns mich loszuwerden, aber noch nicht mal sie schaffte das.
    »Browning. Der Dichter, nicht der Revolver. Ich bin sicher, daß Sie den Revolver lieber hätten.«
    »Hören Sie mal, Kleiner, muß ich erst den Verwalter holen, damit er Sie die Treppe runterdotzt wie einen Basketball?«
    Ich ging rüber und drückte die Tür zu. Sie hielt sich dran, solang sie konnte. Sie trat mich nicht direkt, aber es fiel ihr schwer, mich nicht zu treten. Ich versuchte, sie unauffällig von der Tür wegzudrücken. Sie ließ sich nicht für einen Fünfer wegdrücken.
    Sie hielt ihren Platz, eine Hand noch immer zum Türknopf ausgestreckt, die Augen voll dunkelblauer Wut.
    »Wenn Sie so nahe bei mir stehen wollen«, sagte ich, »sollten Sie vielleicht lieber etwas anziehen.«
    Sie zog ihre Hand zurück und holte fest aus. Der Schlag klang fast so wie Miss Gonzales, als sie die Tür zuknallte, aber er brannte. Und er erinnerte mich an eine wunde Stelle auf meinem Hinterkopf.
    »Habe ich Ihnen weh getan?« fragte sie sanft.
    Ich nickte.
    »Das ist gut.« Sie nahm wieder einen Anlauf und schlug mich noch mal, wenn möglich noch stärker. »Vielleicht sollten Sie mich lieber küssen«, hauchte sie. Ihre Augen waren klar und feucht und schmelzend. Ich warf einen Blick abwärts. Ihre rechte Hand war sehr fachmännisch geballt. Und sie war auch nicht zu klein, um damit zu arbeiten.
    »Glauben Sie mir«, sagte ich. »Es gibt nur einen Grund, warum ich es nicht tue. Noch nicht mal, wenn Sie Ihre kleine schwarze Pistole dabei hätten. Oder den Schlagring, den Sie sicher im Nachttisch liegen haben.«
    Sie lächelte höflich.
    »Es könnte ja sein, daß ich mal für Sie arbeite«, sagte ich. »Außerdem laufe ich nicht hinter jedem Paar Beine her, das ich zu sehen kriege.« Ich sah runter auf die ihren. Ich konnte sie gut sehen, und das Fähnchen auf der Ziellinie war nicht größer, als es sein darf. Sie zog ihren Morgenmantel fest zusammen, drehte sich um und ging kopfschüttelnd rüber zu der kleinen Bar.
    »Ich bin frei, weiß und einundzwanzig«, sagte sie. »Ich habe alle Arten von Anbändeln gesehen. Wenigstens dachte ich das. Wenn ich Ihnen keine Angst machen kann, Sie nicht reinlegen oder verführen kann, wie kann ich Sie denn sonst herumkriegen?«
    »Na jaa ... «
    »Hören Sie auf«, unterbrach sie mich scharf und drehte sich um, mit einem Glas in der Hand. Sie trank, warf den Kopf herum, so daß ihr lockeres Haar flog, und lächelte ein dünnes Lächeln. »Geld natürlich. Wie idiotisch von mir, daß ich daran nicht gedacht habe.«
    »Geld wäre nicht schlecht«, sagte ich.
    Ihr Mund verzerrte sich vor Abscheu, aber die Stimme war beinahe liebevoll. »Wieviel Geld?«
    »Na, hundert Dollar würden reichen - für den Anfang.«
    »Sie sind billig. Ein billiger kleiner Gauner, stimmt's? Sagt hundert Piepen. Nennt man hundert Piepen schon Geld in deinen Kreisen, Liebling?«
    »Schön, dann sagen wir zweihundert. Damit kann ich in Pension gehen.«
    »Immer noch billig. Natürlich wöchentlich. Soll's in einem schönen, sauberen Kuvert sein?«
    »Das Kuvert können Sie sich sparen. Ich würd's nur schmutzig machen.«
    »Und was würde ich dann für das Geld kriegen, mein süßer kleiner Schnüffler? - Ich weiß doch genau, was Sie sind.«
    »Eine Quittung würden Sie kriegen. Wer hat Ihnen gesagt, daß ich ein Schnüffler bin?«
    Einen Augenblick lang sah man ihre wirklichen Augen, dann fiel sie wieder in ihre Rolle.
    »Es muß wohl der Geruch gewesen sein.«
    Sie nahm ein bißchen von ihrem Drink und blickte über das Glas auf mich mit einem leisen, verächtlichen Lächeln.
    »Allmählich glaube ich, daß Sie Ihre eigenen Dialoge schreiben«, sagte ich. »Ich habe mich immer

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