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Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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bitte?«
    Ich gab ihm eine Karte von mir. Er las sie. Er sah mich an. Er hatte den blutleeren, verkniffenen Ausdruck eines Mannes, der eine Katastrophe erwartet.
    »Wir haben miteinander telefoniert«, sagte ich. »Wegen eines Mannes namens Clausen.«
    »Bitte, kommen Sie rein«, sagte er schnell. »Ich erinnere mich nicht, aber kommen Sie mal rein.«
    Ich ging hinein. Der Raum war dunkel, die Rollvorhänge waren heruntergezogen, die Fenster geschlossen. Es war dunkel und es war kalt.
    Die Sprechstundenhilfe zog sich zurück und setzte sich hinter einen kleinen Schreibtisch. Es war ein gewöhnliches Wohnzimmer mit hell angemalter Holztäfelung, die früher, entsprechend dem mutmaßlichen Alter des Hauses, dunkel gewesen war.
    Leichte Sessel standen herum und in der Mitte ein Tisch mit Zeitschriften. Es sah genauso aus, wie es wirklich war: ein Empfangsraum eines Arztes, der seine Praxis in einem ehemaligen Wohnhaus hatte.
    Auf dem Schreibtisch vor der Praxishilfe klingelte das Telefon. Sie fuhr zusammen, und ihre Hand hob sich, dann hielt sie inne. Sie starrte auf das Telefon. Etwas später hörte es auf zu klingeln.
    »Wie war noch mal der Name, den Sie erwähnten;« fragte Dr. Lagardie mich weich.
    »Orrin Quest. Seine Schwester hat mir erzählt, daß er irgendwelche Arbeiten für Sie verrichtet, Doktor. Ich suche ihn seit Tagen. Gestern nacht hat er sie angerufen. Wie sie sagte, von hier aus.«
    »Es gibt hier niemanden dieses Namens«, sagte Dr. Lagardie höflich. »Es hat auch noch nie so jemanden gegeben.«
    »Sie kennen ihn also gar nicht?«
    »Habe noch nie von ihm gehört.«
    »Ich kann mir nicht vorstellen, warum er dann seiner Schwester so etwas erzählen sollte.«
    Die Praxishilfe betupfte heimlich ihre Augen. Plötzlich surrte das Telefon auf ihrem Schreibtisch, und sie fuhr wieder zusammen. »Nehmen Sie nicht auf«, sagte Dr.
    Lagardie, ohne den Kopf zu wenden.
    Wir warteten, solange es läutete. Alle Leute warten, wenn das Telefon läutet. Nach einiger Zeit hörte es auf.
    »Sie können nach Hause gehen, Miss Watson. Hier gibt es nichts mehr zu tun.«
    »Vielen Dank, Doktor.« Sie saß bewegungslos da, sah auf den Schreibtisch. Sie drückte die Augen zusammen und zwinkerte mit ihnen. Dann schüttelte sie, ein wenig verzweifelt, den Kopf.
    Dr. Lagardie wandte sich wieder zu mir. »Gehen wir doch in mein Büro.«
    Wir gingen hinüber durch eine andere Tür, die zu einem Vorplatz führte. Ich ging wie auf Eiern. Die Atmosphäre dieses Hauses war voller Vorahnung. Er öffnete eine Tür und ließ mich in ein Zimmer, das einmal ein Schlafzimmer gewesen sein mußte, aber nichts erinnerte an ein Schlafzimmer. Es war ein kleines, enges Arztbüro. Durch eine offene Tür sah man den Ausschnitt eines Untersuchungsraums. In der Ecke war ein Sterilisierapparat in Betrieb. Eine Menge Spritzen wurden darin gekocht.
    »Das sind aber viele Spritzen«, sagte ich. Ich habe immer so rasche Einfälle.
    »Setzen Sie sich, Mr. Marlowe.«
    Er begab sich hinter den Schreibtisch, setzte sich und griff zu einem langen, dünnen Brieföffnermesser.
    Er sah mich mit seinen sorgenvollen Augen von unten herauf an. »Nein, ich kenne niemand namens Orrin Quest, Mr. Marlowe. Ich kann mir keinerlei Grund vorstellen, warum jemand dieses Namens behaupten sollte, daß er hier in meinem Haus ist.«
    »... und sich versteckt«, sagte ich.
    Seine Augenbrauen hoben sich. »Wovor?«
    »Vor gewissen Leuten, die ihm vielleicht gern einen Eisdorn ins Genick stoßen wollen.
    Auf Grund der Tatsache, daß er ein bißchen zu fix mit seiner kleinen Leica ist. Indem er Bilder von Leuten macht, wenn sie für sich sein wollen. Oder vielleicht ist es auch noch was anderes, wie Hasch dealen, wobei er seine Erfahrungen gemacht hat. Spreche ich in Rätseln?«
    »Sie waren es, der die Polizei hergeschickt hat«, sagte er kühl.
    Ich sagte nichts.
    »Sie waren es, der anrief und berichtete, daß Clausen tot sei.«
    Ich sagte das gleiche wie vorher.
    »Sie waren es, der mich anrief und mich fragte, ob ich Clausen kenne. Ich sagte, ich kenne ihn nicht.«
    »Aber das stimmte nicht.«
    »Aber ich hatte keinerlei Verpflichtung, Ihnen Informationen zu geben, Mr. Marlowe.«
    Ich nickte, holte eine Zigarette heraus und zündete sie an. Dr. Lagardie warf einen Blick auf seine Uhr. Er drehte sich mit seinem Stuhl und schaltete den Sterilisator aus. Ich schaute auf die Spritzen. Ein Haufen Spritzen. Ich hatte schon einmal mit einem Menschen in Bay City Arger gehabt, der

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