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Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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einen Haufen Spritzen abkochte.
    »Was für eine Masche ist es denn?« fragte ich ihn. »Der Jachthafen?«
    Er nahm das bösartig aussehende Papiermesser in die Hand - sein Griff hatte die Form einer nackten Frau. Er drückte mit der Spitze auf die Daumenwölbung. Ein Tropfen dunkles Blut trat aus. Er legte den Daumen an den Mund und leckte ihn. »Ich liebe den Geschmack von Blut«, sagte er sanftmütig.
    Ein entferntes Geräusch war zu hören, als ob jemand die Eingangstür öffnete und schloß. Wir horchten beide aufmerksam. Wir horchten auf die Schritte, die sich über die Stufen vor dem Haus entfernten. Wir horchten mit aller Kraft.
    »Miss Watson ist nach Hause gegangen«, sagte Dr. Lagardie. »Wir sind allein im Haus.« Er brütete darüber nach und leckte wieder den Daumen. Er legte das Messer mit Sorgfalt auf die Löschunterlage. »Ach so, die Frage nach dem Jachthafen«, fuhr er fort. »Sie denken zweifellos daran, wie nahe Mexiko ist. Und wie leicht Marihuana ... «
    »Ich dachte eigentlich nicht mehr so sehr an Marihuana.« Ich blickte wieder auf die Spritzen. Er folgte mir mit den Augen. Er hob die Schultern.
    Ich sagte: »Warum so viele?«
    »Geht Sie das was an?«
    »Mich geht gar nichts was an.«
    »Aber anscheinend erwarten Sie Antwort auf Ihre Fragen?«
    »Ich rede ja nur«, sagte ich. »Ich warte, daß was passiert. Irgendwas wird in diesem Haus passieren. Ich spüre, wie es aus der Ecke schielt.«
    Dr. Lagardie leckte noch Blutstropfen von seinem Daumen.
    Ich sah ihn scharf an. Aber ich kam nicht weiter rein in ihn. Er war still, dunkel und kaputt, und das ganze Elend des Lebens lag in seinen Augen. Aber noch immer war er freundlich.
    »Soll ich Ihnen mal was über die Spritzen sagen«, sagte ich.
    »Aber bitte!« Er griff wieder zu dem langen dünnen Messer.
    »Hören Sie auf damit«, sagte ich heftig. »Ich kriege die Gänsehaut, wenn ich bloß hinschaue. Wie wenn einer mit Schlangen schläft.«
    Er legte das Messer wieder ab und lächelte. »Wir drehen uns im Kreis«, meinte er.
    »Wir kommen schon hin. Noch mal zu den Spritzen. Vor ein paar Jahren hatte ich einen Fall, der mich in diese Gegend hier führte. Ich bekam es mit einem Doktor namens Almore zu tun. Der wohnte drüben in der Altair Street. Er hatte eine komische Praxis.
    Nachts schob er los mit einer großen Tasche voller Injektionsnadeln - alle fertig zum Spritzen. Alle dick voller Stoff. Er hatte schon eine merkwürdige Praxis. Trinker, süchtige Reiche, von denen es mehr gibt, als die Leute glauben, hochgepeppte Leute, die sich so weit gebracht hatten, daß sie nie mehr zur Ruhe kamen. Chronische Schlaflose und was es sonst noch für Neurotiker gibt, die nicht normal leben können.
    Die müssen ihre kleinen Pillen haben; und ihre kleinen Schüsse in den Arm. Man muß ihnen über den Berg helfen. Allmählich wird es alles ein einziger Berg. Gutes Geschäft für den Doktor. Almore war der Doktor, den sie brauchten. Man kann es jetzt ruhig sagen. Er ist vor einem Jahr gestorben. An seiner eigenen Medizin.«
    »Und Sie glauben, daß ich vielleicht seine Praxis geerbt habe?«
    »Jemand wird sie schon geerbt haben. Solange es Patienten gibt, wird es einen Doktor geben.«
    Er wirkte noch stärker erschöpft als vorher. »Lieber Freund, ich glaube, Sie sind ein Dummkopf. Ich habe Dr. Almore nicht gekannt. Und ich habe auch nicht die Art von Praxis, die Sie ihm zuschreiben. Was die Spritzen angeht - nur um diese Kleinigkeit aus der Welt zu schaffen -, sie werden heute in der Medizin ständig benutzt, oft für ganz harmlose Arzneien wie Vitaminspritzen. Und Nadeln werden stumpf. Und wenn sie stumpf sind, tun sie weh. Deshalb benutzt man eben im Laufe des Tages ein Dutzend oder mehr. Und in keiner von ihnen ist Rauschgift.«
    Er hob langsam den Kopf und starrte mich mit unbeweglicher Verachtung an.
    »Vielleicht irre ich mich«, sagte ich. »Nachdem ich gestern diesen Haschgeruch in Clausens Haus roch und er Ihre Telefonnummer wählte und Sie dann beim Vornamen nannte - durch alle diese Vorgänge habe ich wohl die falschen Schlüsse gezogen. «
    »Ich habe mit Süchtigen zu tun gehabt«, sagte er. »Welcher Arzt hat das nicht? Es ist nur Zeitverschwendung.«
    »Sie werden manchmal geheilt.«
    »Man kann ihnen ihren Stoff wegnehmen. Schließlich, nach großen Leiden, kommen sie ohne ihn aus. Das heißt nicht, daß sie geheilt sind, mein Freund. Dadurch beseitigt man nicht die emotionale Schwäche, durch die sie süchtig geworden sind. Man macht

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