Die kleine Schwester
er den Geschmack so lange wie möglich. Ein bitteres kleines Lächeln blieb übrig, wie der Geruch von Pulver, nachdem ein Schuß abgefeuert wurde. Er zuckte die Achseln und schob einen Zigarettenkasten, der hinter dem Ablagekorb gestanden hatte, zu mir herüber.
»Also keine Liebe«, sagte ich. »Ich versuche ja nur zu raten, was Sie denken. Hier sitzen Sie also, ein Mann mit einem Grad von der Sorbonne und mit einer billigen, kleinen Praxis in einer billigen und miesen kleinen Stadt. Das kann ich sehen. Also, was machen Sie hier? Was ist passiert, Doktor? Rauschgift, Abtreibung, oder waren Sie vielleicht zufällig der Sanitäter für die Gangster in irgendeiner wilden Stadt im Osten?«
»Wie zum Beispiel?« - Er lächelte dünn.
»Wie zum Beispiel Cleveland.«
»Eine ziemlich kühne Behauptung, mein Freund.« Seine Stimme war jetzt wie Eis.
»Meinetwegen kühn«, sagte ich. »Aber wenn jemand, wie ich, ein recht beschränktes Gehirn hat, dann versucht er gern, alles, was er weiß, in einen Zusammenhang zu bringen. Oft ist das falsch, aber bei mir ist es eine Berufskrankheit. Wenn Sie zuhören wollen - der Zusammenhang ist dieser.«
»Ich höre.« Wieder nahm er das Messer hoch und stocherte ein wenig auf der Löschunterlage auf seinem Schreibtisch herum.
»Sie kannten Clausen. Clausen ist sehr fachmännisch mit einem Eisdorn umgebracht worden, er wurde getötet, während ich in dem Haus war, einen Stock höher, und mit einem Gauner namens Hicks redete. Hicks machte sich eilig aus dem Staub und nahm eine Seite des Meldebuchs mit, die Seite, auf der der Name von Orrin Quest stand.
Später, am selben Nachmittag, wurde Hicks in Los Angeles mit einem Eisdorn ermordet. Sein Zimmer war durchsucht worden. Eine Frau war dort, die gekommen war, um ihm etwas abzukaufen. Sie kriegte es nicht. Ich hatte mehr Zeit zum Suchen. Ich fand es. Erste Annahme. Clausen und Hicks wurden von dem gleichen Mann getötet, aber nicht unbedingt aus dem gleichen Grund. Hicks getötet, weil er jemand anderen um sein Geschäft gebracht hat. Clausen getötet, weil er ein redseliger Trunkenbold war, der möglicherweise den mutmaßlichen Mörder von Hicks kannte. Also bis hierhin - was meinen Sie dazu?«
»Für mich ganz uninteressant«, sagte Dr. Lagardie.
»Aber Sie hören zu. Vermutlich bloß aus Höflichkeit. Also schön. Nun, was hatte ich gefunden? Ein Foto eines Filmstars und eines früheren Gangsters aus Cleveland -
vielleicht, der jetzt Restaurantbesitzer in Hollywood ist usw., wie sie an einem bestimmten Tag zusammen essen. An einem Tag, an dem dieser Ex-Gangster eigentlich im Kreisgefängnis eingesperrt sein sollte, an einem Tag, an dem der frühere Kompagnon des Ex-Gangsters in der Franklin Avenue in Los Angeles niedergeschossen wurde. Und warum saß er im Kittchen? Ein Hinweis, daß er eben der sei, der er war - und Sie können über die Polizei in Los Angeles sagen, was Sie wollen, aber sicher versuchen sie die schweren Jungen aus dem Osten wieder aus der Stadt zu treiben. Von wem bekamen sie den Tip? Nun, dieser, den sie verhaftet hatten, hatte ihnen zugleich den Tip gegeben, denn der frühere Kompagnon machte Schwierigkeiten und mußte beseitigt werden, und wenn er im Gefängnis saß, hatte er ein erstklassiges Alibi für die Tatzeit.«
»Alles Phantasie.« Dr. Lagardie zeigte ein müdes Lächeln. »Wilde Phantasie.«
»Genau. Es wird noch schlimmer. Die Polypen konnten dem Ex-Gangster nichts nachweisen. Die Polizei in Cleveland hatte kein Interesse. Die Polizei in Los Angeles läßt ihn laufen. Aber sie hätten ihn nicht laufenlassen, wenn sie das Foto gesehen hätten. Das Foto war also bestens zur Erpressung geeignet, zunächst mal gegen den ehemaligen Cleveland-Typ, wenn er wirklich der Mann ist; zweitens gegen den Filmstar, weil sie mit ihm in der Öffentlichkeit gesehen worden war. Ein guter Mann konnte sich mit diesem Foto ein Vermögen verdienen. Hicks war nicht gut genug. Nächster Absatz.
Zweite Annahme. Orrin Quest, der Knabe, den ich zu finden versuche, hat dieses Foto aufgenommen. Es wurde mit einer Contax oder Leica gemacht, ohne Blitzlicht, ohne daß die Personen überhaupt merkten, daß sie fotografiert wurden. Quest besaß eine Leica und machte so was gern. In diesem Fall hatte er natürlich ein eher geschäftliches Interesse. Frage, wie bekam er überhaupt die Gelegenheit, das Foto zu machen?
Antwort, der Filmstar war seine Schwester. Sie ließ es zu, daß er zu ihr ging und mit ihr sprach. Er war
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