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Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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mal tief und seien Sie in Panik, damit ich es hören kann. «
    »Sie könnten ihn töten«, sagte sie ruhig.
    »Und was macht Dr. Lagardie währenddessen?«
    »Er weiß natürlich nichts davon. Bitte, bitte gehen Sie hin. Ich habe die Adresse hier.
    Einen Augenblick.«
    Und nun klingelte das Glöckchen, dieses Glöckchen, das ganz am Ende des Korridors klingelt, gar nicht laut, aber man sollte es hören. Egal, was da sonst noch für Geräusche sind, man sollte es unbedingt hören.
    »Er wird im Telefonbuch sein«, sagte ich. »Und komischerweise habe ich sogar ein Telefonbuch von Bay City. Rufen Sie um vier an. Oder um fünf. Sagen wir lieber fünf.«
    Ich legte schnell auf. Ich erhob mich und stellte das Radio ab, nachdem ich nichts davon mit Bewußtsein gehört hatte. Ich schloß die Fenster. Ich zog die Schublade meines Schreibtisches auf, holte die Luger raus und schnallte sie um. Ich stülpte mir den Hut auf den Kopf. Beim Rausgehen warf ich noch einen Blick auf das Gesicht im Spiegel.
    Ich sah aus, als sei ich entschlossen, mich von einem Felsen zu stürzen.

21
    Im >Haus des ewigen Friedens< wurde gerade eine Begräbnisfeier beendet. Ein großer grauer Leichenwagen wartete vor ,dem Seitenausgang. Autos drängten sich auf beiden Straßenseiten, drei schwarze Limousinen hintereinander an Dr. Lagardies Etablissement entlang. Leute kamen langsam den Weg von der Begräbniskapelle zur Ecke herunter und stiegen in ihre Autos. Ich hielt kurz davor und wartete. Die Wagen bewegten sich nicht. Dann kamen drei Leute mit einer Frau, die tief verschleiert war und ganz in Schwarz. Sie trugen sie beinahe zu einer großen Limousine. Der Oberleichenbestatter sprang herum und machte geschmeidige kleine Gesten und Körperbewegungen von der Grazie eines Chopin-Nocturnes. Sein gesetztes graues Gesicht war so lang, daß man es zweimal um den Hals wickeln konnte.
    Einige Trauergäste trugen den Sarg durch das Seitentor hinaus, dann kamen die professionellen Sargträger, nahmen ihnen die Last ab und hoben sie von hinten in den Leichenwagen, mit einer Leichtigkeit, als sei sie nicht schwerer als ein Korb mit Hörnchen. Blumen häuften sich darüber zu einem Hügel. Die Glastüren wurden geschlossen, und überall in der Nähe starteten Motoren.
    Ein paar Augenblicke später war nichts übrig außer einer Limousine auf der anderen Seite und dem Oberleichenbestatter, der an einem Rosenbusch schnüffelte und sich dann ins Innere begab, um das eingenommene Geld zu zählen. Mit einem strahlenden Lächeln verschwand er in seinem hübschen klassizistischen Windfang, und die Welt war wieder leer und bewegungslos. Die restliche Limousine hatte sich nicht bewegt. Ich fuhr vorbei, kehrte um und stellte mich dahinter. Der Fahrer trug eine blaue Uniform und eine weiche Mütze mit einem glänzenden Schirm. Er beschäftigte sich mit einem Kreuzworträtsel aus der Morgenzeitung. Ich setzte eine von diesen verspielten Sonnenbrillen auf meine Nase und ging an ihm vorbei zu Dr. Lagardies Haus. Er sah nicht auf. Als ich ein paar Meter weiter war, nahm ich die Gläser ab und tat, als wollte ich sie mit meinem Taschentuch putzen. Ich beobachtete ihn durch eines der Spiegelgläser. Er sah noch immer nicht auf. Es war einfach ein Mann über einem Kreuzworträtsel. Ich setzte die Brille wieder auf und ging um das Haus herum zu Dr.
    Lagardies Eingangstür.
    Auf dem Schild über der Tür stand: Klingeln, dann eintreten. Ich klingelte, aber die Tür blieb zu, und ich konnte nicht eintreten. Ich wartete. Klingelte wieder. Wartete wieder.
    Drinnen war Stille. Dann öffnete sich die Tür sehr langsam um einen Spalt, und ein dünnes, ausdrucksloses Gesicht über einer weißen Uniform blickte zu mir heraus.
    »Bedaure. Der Doktor empfängt heute keine Patienten.« Sie sah zwinkernd auf die Spiegelgläser. Sie mochte sie nicht. Ihre Zunge bewegte sich ruhelos hinter den Lippen.
    »Ich möchte zu einem Mr. Quest. Orrin P. Quest.«
    »Zu wem?« Ein schwacher, erschrockener Glanz war tief in ihren Augen.
    »Quest. Q wie Quintessenz, U wie ungehemmt, E wie Erscheinung, S wie surrealistisch, T wie tot. Alle zusammen ergeben das Wort Bruder.«
    Sie sah mich an, als wäre ich gerade vom Meeresgrund aufgestiegen, mit einer Meerjungfrau unter dem Arm.
    »Bitte entschuldigen Sie. Dr. Lagardie empfängt heute ... «
    Sie wurde von unsichtbaren Händen zur Seite geschoben, dann stand ein dunkler, geisterhafter Mann in der halboffenen Tür.
    »Ich bin Dr. Lagardie. Worum geht es

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