Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
Vom Netzwerk:
arbeitslos und brauchte Geld. Gut möglich, daß sie ihm was gegeben hat, unter der Bedingung, daß er sich von ihr fern hielt. Sid will nichts mit ihrer Familie zu tun haben. Immer noch wilde Phantasie, Doktor?«
    Er sah mich grüblerisch an. »Weiß nicht«, sagte er langsam. »Ein paar Ansätze sind da.
    Aber warum erzählen Sie mir diese recht gefährliche Geschichte?«
    Er holte sich eine Zigarette aus dem Kästchen und warf auch mir eine lässig zu. Ich fing sie auf und betrachtete sie. Eine ägyptische, dick und oval, ein bißchen zu mächtig für mich. Ich zündete sie nicht an, ich saß nur so da und hielt sie zwischen den Fingern und beobachtete seine dunklen, unglücklichen Augen. Er zündete sich seine eigene Zigarette an und rauchte nervös.
    »Jetzt betrachten wir uns mal Ihre Rolle in diesem Spiel«, sagte ich. »Sie kannten Clausen. Beruflich, wie Sie sagen. Ich zeigte ihm, daß ich ein berufsmäßiger Schnüffler bin. Sofort versuchte er, Sie anzurufen. Er war zu betrunken, um reden zu können. Ich wußte nun die Nummer und habe Ihnen später erzählt, daß er tot sei. Warum? Wenn Sie auf Draht waren, mußten Sie die Polizei anrufen. Aber das taten Sie nicht. Warum?
    Sie kannten Clausen, Sie hätten einige seiner Mieter kennen können. Beweist nichts gegen Sie, auch nicht für Sie. Absatz. Dritte Annahme. Sie kannten Hicks oder Orrin Quest, oder beide. Die L.A.-Polypen konnten die Identität des früheren Cleveland-Gangsters nicht beweisen oder wollten es nicht. Geben wir ihm einen Namen, nennen wir ihn Steelgrave. Aber offenbar mußte irgend jemand den Beweis haben - wenn man wegen dieses Fotos Leute umbringen konnte. Haben Sie irgendwann mal eine Praxis in Cleveland gehabt, Doktor?«
    »Keineswegs.« Seine Stimme schien weit weg zu sein. Seine Augen waren auch weit weg. Seine Lippen öffneten sich kaum weit genug, um die Zigarette zu halten. Er war sehr ruhig.
    Ich sagte: »Im Telefonamt haben sie einen ganzen Raum voller Telefonbücher.
    Telefonbücher aus dem ganzen Land. Da habe ich Sie herausgesucht. Eine ganze Flucht von Räumen in einem Geschäftshaus in der City«, sagte ich. »Und jetzt dies -
    eine fast unauffindbare Praxis in einer kleinen Stadt an der Küste. Am liebsten hätten Sie ja Ihren Namen geändert, aber das war nicht möglich, wenn Sie Ihre Approbation behalten wollten. Irgend jemand muß sich dieses Ding ausgedacht haben, Doktor.
    Clausen war ein verkommener Typ, Hicks war ein Dummkopf, Orrin Quest ein schmieriger Schleicher. Aber man konnte sich ihrer bedienen. Mit Steelgrave konnten Sie es persönlich nicht aufnehmen. Sie hätten nicht mal lange genug gelebt, um sich noch die Zähne zu putzen. Sie mußten mit Strohmännern arbeiten, mit Strohmännern, die ersetzbar waren. Nun - kommen wir der Sache näher?«
    Er lächelte schwach und lehnte sich mit einem Seufzer zurück in seinen Sessel. »Vierte Annahme, Mr. Marlowe«, sagte er, beinahe flüsternd. »Sie sind ein Vollidiot.«
    Ich grinste und nahm ein Streichholz, um seine dicke ägyptische Zigarette anzuzünden.
    »Zu allem Überfluß«, sagte ich, »ruft mich auch noch Orrins Schwester an und erzählt mir, er sei in Ihrem Haus. Ich gebe zu, jedes einzelne ist ein schwaches Argument. Aber irgendwie laufen alle bei Ihnen zusammen.« Ich paffte friedlich meine Zigarette.
    Er beobachtete mich. Sein Gesicht schien zu verschwimmen, es wurde undeutlich, es schien sich zu entfernen und zu nähern. Ich fühlte eine Beklemmung in der Brust.
    Meine Gedanken bewegten sich im Schildkrötentrab.
    »Was ist denn hier los?« hörte ich mich murmeln.
    Ich faßte die Armlehne meines Sessels und hievte mich hoch. »Schön blöd war ich, was?« sagte ich, und hatte meine Zigarette noch immer im Mund und rauchte sie noch immer. »Blöd« war wohl nicht das richtige Wort. Muß mir ein neues ausdenken.
    Ich war aus dem Sessel raus, und meine Füße steckten in zwei Betonröhren. Wenn ich redete, schien meine Stimme durch Watte zu dringen.
    Ich ließ die Stuhllehne los und griff nach der Zigarette. Ich verfehlte sie mehrmals, dann endlich hatte ich meine Hand darum herum. Fühlte sich nicht an wie eine Zigarette.
    Fühlte sich an wie das Hinterbein von einem Elefanten. Mit scharfen Fußnägeln. Sie stachen mir in die Hand. Ich schüttelte meine Hand, und der Elefant nahm sein Bein weg.
    Eine undeutliche, aber riesengroße Gestalt drehte sich vor mir, und ein Maulesel schlug aus und traf mich auf der Brust. Ich setzte mich auf den

Weitere Kostenlose Bücher