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Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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seiner Hose, dann in den Schuh, und aus dem Schuh floß es gemächlich auf den Boden. Es gab schon eine kleine Pfütze.
    Ich konnte die Schußwunde nicht sehen. Seine Zähne klappten aufeinander, und ich glaubte, daß er reden würde oder versuchte zu reden. Aber das war das einzige Geräusch, das von ihm kam. Er hatte aufgehört zu atmen. Sein Unterkiefer sank herunter. Dann begann das Rasseln. Natürlich ist es kein Rasseln. Es ist überhaupt nicht wie ein Rasseln.
    Gummisohlen quietschten auf dem Linoleum zwischen dem Läufer und der Türschwelle. Die weißen Finger glitten vom Türrahmen ab. Der Körper des Mannes fing an, sich auf seinen Beinen zu drehen. Die Beine wollten ihn nicht mehr tragen. Sie spreizten sich. Sein Oberkörper warf sich herum, wie ein Schwimmer vor einer Woge, und flog auf mich.
    Im gleichen Augenblick erhob sich ein anderer Arm, den man bisher nicht sehen konnte, und fuhr wie elektrisiert herüber, mit einer Bewegung, die offenbar keine lebendige Ursache mehr hatte. Gerade als ich seinen Körper packte, schlug mir der Arm über die linke Schulter. Eine Biene stach mich zwischen die Schulterblätter.
    Abgesehen von der Alkoholflasche, die ich in der Hand gehabt hatte, fiel noch etwas auf den Boden und rollte an die Fußleiste der Wand.
    Ich preßte meine Zähne fest zusammen, machte meine Beine breit und faßte ihn unter den Armen. Ein Gewicht von fünf Männern. Ich trat etwas zurück und versuchte ihn aufrecht zu halten. Es war ungefähr so, als wollte man einen umgestürzten Baum hochhieven. Ich ging mit ihm zu Boden. Sein Kopf schlug auf. Ich konnte es nicht ändern. Es war nicht genug von mir an der Arbeit, um es zu ändern. Ich legte ihn ein bißchen ordentlicher hin und löste mich von ihm. Ich kniete mich hin, beugte mich vor und horchte. Das Rasseln hörte auf. Es folgte eine lange Stille. Dann kam ein gedämpfter Seufzer, sehr ruhig, gleichgültig und ohne Hast. Wieder die Stille. Noch ein Seufzer, noch langsamer, gelöst und friedlich wie ein Sommerlüftchen, das an schaukelnden Rosen vorüberzieht.
    Dann geschah etwas mit seinem Gesicht und hinter dem Gesicht, es geschah dieses Unerklärliche, das in diesem immer wieder verblüffenden und unergründlichen Augenblick geschieht, dieses Sichglätten, die Rückkehr durch die Jahre, bis hin zum Alter der Unschuld. Das Gesicht zeigte nun eine undeutliche, innere Heiterkeit, fast spitzbübisch hoben sich die Mundwinkel. Dabei war das alles sehr töricht, denn - wenn ich überhaupt etwas wußte - so wußte ich genau, daß Orrin P. Quest nicht dieser Typ von einem Jungen gewesen war.
    In der Ferne heulte eine Sirene. Ich blieb auf den Knien und lauschte. Sie heulte und verschwand. Ich stellte mich auf die Füße, ging rüber und blickte durch ein Seitenfenster nach draußen. Vor dem >Haus des ewigen Friedens< bahnte sich eine weitere Beerdigung an. Wieder war die Straße dick voller Autos. Leute wanderten langsam den Weg neben den Teerosen hinauf. Ganz langsam gingen sie, die Männer hielten ihre Hüte in den Händen, lange bevor sie die kleine Vorderveranda erreicht hatten.
    Ich ließ den Vorhang herunter, ging zurück, nahm die Flasche mit dem Äthylalkohol, wischte sie mit meinem Taschentuch ab und legte sie beiseite. Ich hatte kein Interesse mehr am Alkohol. Als ich mich noch einmal bückte, wurde ich durch einen Stich zwischen meinen Schulterblättern daran erinnert, daß da noch etwas darauf wartete, aufgehoben zu werden. Etwas mit einem runden weißen Holzgriff, das dicht an der Fußleiste lag. Ein Eisdorn mit einer Klinge, die auf höchstens sieben Zentimeter heruntergefeilt war. Ich hielt ihn gegen das Licht und besah die nadeldünne Spitze.
    Vielleicht hing ein klein bißchen von meinem Blut daran. Ich ließ einen Finger neben der Spitze vorbeigleiten. Kein Blut. Die Spitze war sehr scharf.
    Ich polierte noch ein bißchen mit meinem Taschentuch, dann bückte ich mich und legte den Eisdorn auf den Teller seiner rechten Hand, die sich wächsern und weiß vom stumpfen Flor des Teppichs abhob. Es sah zu gestellt aus. Ich rüttelte den Arm, so daß der Eisdorn aus der Hand auf den Boden rollte. Ich überlegte, ob ich seine Taschen durchsuchen sollte, aber das hatte eine andere Hand, unbarmherziger als meine, sicher schon besorgt.
    In einem plötzlichen Anfall von Panik durchsuchte ich statt dessen meine Taschen. Es war nichts weggekommen. Sogar die Luger war im Schulterhalfter geblieben. Ich zog sie raus und roch an ihr. Sie war

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