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Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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meinen Hüften, auf die Arme gestützt und schüttelte den Kopf. Er rotierte ein wenig. Er spulte sich zweitausend Meter tief, dann holte ich ihn rauf und kam wieder zu mir. Ich zwinkerte. Derselbe Boden, derselbe Schreibtisch, dieselben Wände. Aber kein Dr. Lagardie.
    Ich befeuchtete die Lippen und machte ein unbestimmtes Geräusch, auf das niemand reagierte. Ich stellte mich auf meine Füße. Ich war schwindlig wie ein Derwisch, schwach wie eine müde Waschmaschine, ich hing durch wie ein Dachsbauch, war so scheu wie eine Spitzmaus, und meine Chancen waren so gering wie die von einem Ballettmädchen mit einem Holzbein.
    Ich tappte hinüber, auf die Rückseite des Schreibtisches, ließ mich in Dr. Lagardies Sessel fallen und durchsuchte unsystematisch seine Gerätschaften nach einer passend aussehenden Flasche mit flüssigem Nährstoff. Nichts zu machen. Ich raffte mich wieder hoch. Ich war so schwer aufzuheben wie ein toter Elefant. Ich stolperte herum und blickte in weiß emaillierte Schränke, die alles enthielten, wonach manche Leute sich die Hacken abgelaufen hätten. Endlich - es kam mir vor wie nach vier Jahren Arbeitslager -
    umfaßte meine kleine Hand einen Viertelliter Äthylalkohol. So stand's auf dem Etikett.
    jetzt brauchte ich nur noch ein Glas und etwas Wasser. Ein guter Mann müßte das auch noch schaffen. Ich bewegte mich durch die Tür zum Untersuchungsraum. In der Luft war immer noch der aromatische Duft überreifer Pfirsiche. Beim Durchgehen stieß ich an beide Seiten des Türrahmens und machte eine kleine Pause, um noch mal richtig Ausschau zu halten.
    In diesem Augenblick kam mir zu Bewußtsein, daß draußen in der Diele Schritte herunterkamen. Ich lehnte mich müde gegen die Wand und horchte.
    Langsame, schlurfende Schritte, nach jedem eine lange Pause. Anfangs schienen sie zu schleichen. Dann schienen sie nur sehr, sehr müde. Ein alter Mann will seinen letzten Ohrensessel erreichen. Es gab zwei von unserer Sorte. Und dann, ganz ohne Grund, mußte ich an Orfamays Vater denken, da draußen in Manhattan, Kansas, auf seiner Veranda, wie er still zu seinem Schaukelstuhl schlurft und seine kalte Pfeife in der Hand hat, um sich zu setzen, auf den Rasen vor dem Haus zu schauen und sich ein hübsches, sparsames Rauchvergnügen zu gönnen' 'für das man keine Streichhölzer und keinen Tabak braucht, und das den Wohnzimmerteppich nicht beschmutzt. Ich rückte ihm seinen Schaukelstuhl zurecht. Am schattigen Ende der Veranda, dicht bewachsen mit Bougainvilleen, half ich ihm, sich zu setzen. Ersah auf und dankte mir mit seiner heilen Gesichtshälfte. Als er sich zurücklehnte, kratzten seine Fingernägel auf den Stuhllehnen.
    Die Fingernägel kratzten, aber nicht auf irgendwelchen Stuhllehnen. Es war ein echtes Geräusch. Es war in der Nähe, außen an einer geschlossenen Tür, die vom Untersuchungsraum zur Diele führte. Ein dünnes, schwaches Kratzen, vielleicht ein kleines Kätzchen, das hereinwollte. Na los, Marlowe, du bist doch ein alter Tierfreund.
    Geh mal rüber und laß das Kätzchen rein. Ich machte mich auf. Ich schaffte es mit Hilfe der hübschen Untersuchungsliege, mit den Ringen am Ende und mit den hübschen sauberen Handtüchern. Das Kratzen hatte aufgehört. Armes kleines Kätzchen da draußen, das rein wollte. In meinem Auge entstand eine Träne und rann über meine faltige Wange. Ich ließ die Untersuchungsliege los und durchquerte gute vier Meter bis zur Tür. In meinem Inneren hämmerte das Herz. An den Lungen hatte ich immer dieses Gefühl, daß sie ein paar Jahre gelagert hatten. Ich atmete tief ein, schnappte mir den Türknopf und öffnete ihn. Im allerletzten Augenblick fiel es mir ein, zur Pistole zu greifen. Es fiel mir ein, und dabei blieb es. Ich bin jemand, der sich einen Einfall lieber noch mal bei Licht besieht. Ich hätte den Türknopf wieder loslassen müssen. Es erschien einfach ein zu großes Unternehmen. Statt dessen drehte ich den Kopf und öffnete die Tür.
    Mit vier gekrümmten Fingern aus weißem Wachs war er am Türrahmen festgeklammert. Er hatte tiefe Augen - millimetertief, blaß, graublau, weit offen. Sie blickten mich an, aber sie sahen mich nicht. Unsere Gesichter waren zentimeterdicht aneinander. Mitten in der Luft prallte unser Atem zusammen. Meiner war schnell und heftig, seiner war ein schwaches Säuseln, nicht ganz ein Röcheln. Blasiges Blut kam aus seinem Mund und rann zum Kinn. Irgendwas zog meinen Blick nach unten. Blut sickerte langsam im Innern

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