Die kleine Schwester
Fußboden.
»Ein bißchen Kaliumcyanid«, sagte eine Stimme durch ein transatlantisches Telefon.
»Nicht tödlich, noch nicht mal gefährlich. Nur entspannend ... «
Ich bemühte mich, vom Boden loszukommen. Sie müssen das mal versuchen. Aber lassen Sie den Boden vorher festnageln. Dieser Boden drehte sich rundum. Etwas später beruhigte er sich ein bißchen. Ich ließ es bei 45 Grad gut sein. Ich nahm mich zusammen und fing an, irgendwohin zu gehen. Am Horizont war etwas, vielleicht Napoleons Mausoleum. Als Ziel war das gut genug. Dorthin brach ich auf. Mein Herz schlug schnell und schwer, und ich hatte Mühe, meine Lungen weit zu machen. So wie wenn man beim Fußball außer Atem kommt. Man denkt, man wird nie wieder Atem kriegen. Nie wieder, nie, nie.
Dann war's nicht mehr Napoleons Mausoleurn. Es war ein Floß auf einer Strömung. Ein Mann war drauf. Den hatte ich mal irgendwo gesehen. Netter Kerl, wir kamen gut zusammen aus. Ich ging los zu ihm und traf mit der Schulter auf eine Wand. Ich wurde herumgewirbelt. Ich versuchte irgendwas zu fassen, um Halt zu finden. Außer dem Teppich war nichts. Wie kam ich da herunter? Sinnlos zu fragen. Es ist ein Geheimnis.
jedesmal, wenn man eine Frage stellt, hauen sie dir den Boden ins Gesicht. Na ja, ich fing an, auf dem Teppich zu krabbeln. Ich lag auf dem, was früher meine Hände und Knie gewesen waren. Da war nichts zu fühlen, also kein Beweis. Ich kroch auf eine dunkle Holzwand zu. Oder vielleicht war's auch schwarzer Marmor. Wieder Napoleons Mausoleum. Was habe ich bloß mit dem Napoleon gemacht? Warum will er mir immer sein Mausoleurn aufdrängen?
»Brauch'n Schluck Wasser«, sagte ich.
Ich wartete auf das Echo. Kein Echo. Niemand sagte was. Vielleicht hatte ich es nicht gesagt. Vielleicht war es nur so eine Idee gewesen. Kaliumcyanid. Das ist ein langes Wort, mit dem man sich da abgeben soll, wenn man durch einen Tunnel kriecht. Nichts Tödliches, sagte er. Na schön, das ist bloß Spaß. Vielleicht nennt man es halb-tödlich.
Philip Marlowe, 38, Inhaber einer Privatlizenz, mit zweifelhaftem Leumund, wurde gestern abend von der Polizei beobachtet, wie er durch den Hochwasserabfluß kroch, auf dem Rücken einen Konzertflügel. Beim Verhör in der Polizeistation der University Heights erklärte Marlowe, daß er den Flügel dem Maharadscha vom Coot-Berar bringen wollte. Auf die Frage, warum er Sporen anhätte, erklärte Marlowe, das Geständnis eines Kunden sei ihm heilig. Marlowe ist jetzt in Untersuchungshaft. Polizeichef Hornside sagte, daß die Polizei noch nichts weiter sagen könne. Auf die Frage, ob der Flügel nicht verstimmt sei, erklärte Polizeichef Hornside, er habe den Minutenwalzer drauf in fünfunddreißig Sekunden gespielt, und soweit er erkennen könne, seien in dem Klavier keine Saiten enthalten. Er deutete an, daß etwas anderes drin sei. Polizeichef Hornside sagte schroff, eine vollständige Presseverlautbarung werde innerhalb von zwölf Stunden abgegeben. Es wird vermutet, daß Marlowe versucht hatte, eine Leiche verschwinden zu lassen.
Aus der Dunkelheit schwamm ein Gesicht zu mir. Ich änderte die Richtung und bewegte mich auf das Gesicht zu. Aber es war zu spät am Nachmittag. Die Sonne ging unter. Es wurde schnell dunkel. Es gab kein Gesicht. Es gab keine Wand, keinen Schreibtisch.
Dann gab es auch keinen Boden mehr. Es gab gar nichts mehr.
Nicht mal mich gab es.
22
Ein großer schwarzer Gorilla mit einer großen schwarzen Pfote hatte seine große schwarze Pfote auf meinem Gesicht und versuchte sie durchzudrücken bis zu meinem Hinterkopf. Ich drückte zurück. Es ist meine Spezialität, bei einem Streit auf der schwächeren Seite zu stehen. Dann erkannte ich, daß er mich daran hindern wollte, die Augen zu öffnen.
Ich entschloß mich, die Augen trotzdem zu öffnen. Andere haben's getan, also warum ich nicht? Ich nahm meine Kräfte zusammen, machte den Rücken steif, bewegte die Schenkel und Knie und benutzte die Arme als Seile, um ganz langsam das enorme Gewicht meiner Augenlider hochzuhieven.
Ich blickte zur Decke. Ich lag mit dem Rücken am Boden - eine Lage, in die meine Berufung mich schon öfter gebracht hat. Ich ließ meinen Kopf hin und her rollen. Meine Lungen fühlten sich steif an, und mein Mund war trocken. Das Zimmer war einfach Dr.
Lagardies Sprechzimmer. Derselbe Sessel, derselbe Schreibtisch, dieselben Wände und dasselbe Fenster. In der Luft eine Stille mit Rouleaus davor.
Ich richtete mich auf, lag auf
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