Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
Vom Netzwerk:
nicht abgefeuert worden, aber das hätte ich mir sowieso schon denken können. Man läuft nicht mehr lang herum, wenn man von einer Luger getroffen wurde.
    Ich stieg über die dunkelrote Pfütze im Türeingang und sah mich in der Diele um. Das Haus war noch immer still und erwartungsvoll. Die Blutspur führte mich wieder zurück, durch ein Zimmer, das wie eine Studierstube möbliert war. Eine kleine Liege war drin, ein Schreibtisch, einige Bücher und medizinische Zeitschriften, ein Aschenbecher mit fünf dicken ovalen Stummeln darin. Ein metallisches Glitzern neben einem Bein der Liege erwies sich als ein gebrauchtes Geschoß einer .32er Automatic. Ein anderes Geschoß fand ich unter dem Schreibtisch. Ich steckte beide in meine Tasche.
    Ich kehrte zurück und stieg die Treppe hinauf. Es gab zwei Schlafzimmer, die in Benutzung waren, in einem waren alle Bezüge abgenommen. Weitere Stummel von Dr.
    Lagardie waren in einem Aschenbecher. In dem anderen Schlafzimmer befand sich Orrin Quests kümmerliche Garderobe, sein zweiter Anzug und sein Mantel hingen säuberlich im Schrank, seine Hemden, Socken und Unterwäsche lagen ebenso säuberlich in den Schubladen einer Kommode. Hinten, unter den Hemden, fand ich eine Leica mit einem f/2-Objektiv.
    Ich ließ diese Sachen liegen, wie sie lagen, und ging wieder hinunter in den Raum, wo der tote Mann lag, den solche Kleinigkeiten nicht mehr kümmerten. Aus schierer Bosheit wischte ich noch ein paar Türknöpfe ab, stand unentschlossen vor dem Telefon im Vorzimmer und ging fort, ohne es anzurühren. Die bloße Tatsache, daß ich noch immer herumlief, war ein ziemlich guter Hinweis darauf, daß der gute Dr. Lagardie niemand umgebracht hatte.
    Auf der anderen Straßenseite krochen noch immer die Leute über den Weg hinauf zu der merkwürdig kleinen Veranda des Bestattungsinstituts. Im Inneren hörte man eine klagende Orgel.
    Ich ging um das Hauseck, stieg in mein Auto und fuhr weg. Ich fuhr langsam und atmete mit aller Kraft, aber irgendwie bekam ich noch immer nicht genug Luft.
    Ungefähr vier Meilen vom Meer endet Bay City. Ich hielt vor dem letzten Drugstore an.
    Es war mal wieder an der Zeit, einen von meinen anonymen Telefonanrufen zu tätigen.
    Na los, dann holt euch mal die Leiche, Jungs. Wer ich bin? Bloß einer, der Glück hat und sie immerzu für euch aufstöbert. Auch bescheiden. Nicht mal mein Name braucht genannt zu werden.
    Ich blickte in den Drugstore durch das große gläserne Schaufenster. Ein Mädchen mit einer schrägen Brille las eine Illustrierte. Sie sah ein bißchen wie Orfamay Quest aus.
    Irgendwas schnürte meine Kehle zu.
    Ich kuppelte ein und fuhr los. Sie hatte ein Recht darauf, es als erste zu erfahren - mit oder ohne Gesetz. Und ich war sowieso schon weit vom Gesetz entfernt.

23
    Vor der Tür blieb ich stehen, den Schlüssel in der Hand. Dann ging ich lautlos zu der anderen Tür, die immer unverschlossen ist. Ich stand davor und horchte. Vielleicht war sie schon drin und wartete, mit glänzenden Augen hinter den schrägen Brillengläsern und mit dem kleinen feuchten Mündchen, das geküßt sein wollte. Ich müßte ihr dann etwas erzählen, schlimmer als alle ihre Träume, und dann, etwas später, würde sie fortgehen, und ich würde sie nie wieder sehen.
    Ich hörte nichts. Ich ging zurück, schloß die andere Tür auf, nahm die Post hoch, trug sie rüber und warf sie auf den Schreibtisch. Es war nichts dabei, was mich besonders stärkte. Ich ließ die Post liegen, ging rüber, entriegelte die Zwischentür und öffnete sie -
    nach einem langen, trägen Augenblick. Ich warf einen Blick hinüber. Leer und still. Vor meinen Füßen lag ein gefaltetes Stück Papier. Es war unter der Tür durchgeschoben worden. Ich nahm es auf und entfaltete es.
    »Bitte rufen Sie mich im Apartmenthaus an. Sehr dringend. Muß Sie unbedingt sprechen.« Die Unterschrift war »D«.
    Ich wählte die Nummer vom Chateau Bercy und fragte nach Miss Gonzales. Wer denn am Apparat sei, bitte? Einen Augenblick bitte, Mr. Marlowe. Tüt, tüt. Tüt, tüt.
    »Allooh?«
    »Heute haben wir den Akzent wohl ein bißchen dick aufgelegt.«
    »Oh, Sie sind es, Amigo. Ich habe so lange in Ihrem komischen kleinen Büro gewartet.
    Können Sie zu mir herüber kommen und mit mir reden?«
    »Unmöglich. Ich erwarte einen Anruf.«
    »Kann ich zu Ihnen kommen?«
    »Worum geht's denn eigentlich?«
    »Das kann man nicht am Telefon besprechen, Amigo.«»Na dann kommen Sie 'mal.«
    Ich saß und wartete,

Weitere Kostenlose Bücher