Die kleine Schwester
daß das Telefon klingelte. Es klingelte nicht. Ich sah aus dem Fenster. Auf dem Boulevard brodelte die Menge, die Küche von der Cafeteria nebenan stieß Düfte von ihren überbackenen Sandwiches aus der Ventilatoröffnung. Die Zeit verging. Ich saß über den Schreibtisch gekrümmt, das Kinn in die Hand gestützt, und starrte auf den gelben Wandverputz. Dort sah ich die blasse Gestalt eines sterbenden Mannes, der einen kurzen Eisdorn in der Hand hielt, und ichfühlte den Stich zwischen meinen Schulterblättern. Herrlich, was Hollywood aus einem macht. Eine strahlende Schönheitskönigin aus einer armseligen Bauerntrine, die eigentlich die Hemden eines Lastwagenfahrers bügeln müßte, einen maskulinen Helden mit schimmernden Augen und einem strahlenden Lächeln, dampfend vor Sex, aus einem hochgeschossenen jungen, der sonst mit einem Henkelmann zur Arbeit gegangen wäre. Aus einer texanischen Kellnerin, die so kultiviert ist wie eine Comic-Figur, entsteht eine kosmopolitische Kurtisane, die sechsmal mit sechs Millionären verheiratet war und schließlich so blasiert und dekadent ist, daß sie es aufregend findet, einen Möbelträger mit verschwitztem Unterhemd zu verführen.
Und mittels Fernsteuerung ist es in Hollywood sogar möglich, einen Kleinstadtspießer wie Orrin Quest innerhalb weniger Monate in einen eiskalten Totmacher zu verwandeln und seine simple Bosheit zum exemplarischen Sadismus eines Massenmörders zu verfeinern.
Sie brauchte etwas über zehn Minuten für den Weg. Ich hörte, wie die Tür sich öffnete und schloß; ich ging rüber in das Wartezimmer, und da stand sie, die große amerikanische Sündenblume. Der Anblick haute mich um. Ihre Augen waren schwarz, tief und ohne ein Lächeln.
Wie am vorigen Abend war sie ganz in Schwarz, aber diesmal in einem Schneiderkostüm, mit einem breiten schwarzen Strohhut, der herausfordernd schräg saß; der Kragen ihrer weißen Seidenbluse lag über dem Kragen ihres Jacketts; ihr Hals war braun und geschmeidig, ihr Mund rot wie die Feuerwehr.
»Ich habe lange gewartet«, sagte sie. »Ich habe noch nicht gegessen. «
»Ich schon«, sagte ich. »Blausäure. War vorzüglich. Bis eben habe ich schön blau ausgesehen.«
»Ich bin heute nicht besonders unterhaltsam, Amigo.«
»Sie brauchen mich gar nicht zu unterhalten«, sagte ich. »Ich unterhalte mich schon selbst. Ich gebe mir eine Vorstellung, daß ich mich auf dem Parkett wälze. Wir wollen mal rübergehen.«
Wir gingen rüber in meine private Denkanstalt und setzten uns. »Tragen Sie immer Schwarz?« fragte ich.
»Aber ja. Das ist aufregender, wenn ich mich ausziehe.«
»Müssen Sie immer wie eine Nutte reden?«
»Sie wissen nicht viel über Nutten, Amigo. Die betragen sich immer sehr anständig.
Außer den billigen, natürlich.«
»Jawohl«, sagte ich. »Schönen Dank für die Auskunft. Was ist denn jetzt das Dringende, worüber wir reden müssen? Mit Ihnen ins Bett gehen ist nicht so dringend.
Das kann man jeden Tag.«
»Sie haben schlechte Laune.«
»Na schön, dann habe ich schlechte Laune.«
Sie holte eine ihrer langen braunen Zigaretten aus ihrer Tasche und klemmte sie sorgfältig in die goldene Pinzette. Sie wartete, damit ich sie ihr anzündete. Ich unterließ es, da gab sie sich selber Feuer, mit einem Goldfeuerzeug.
Sie hielt ihr Kitschdings in einer lang und schwarz behandschuhten Hand und blickte mich mit flachen, schwarzen Augen an, in denen keinerlei Humor war.
»Möchten Sie mit mir ins Bett gehen?«
»Das möchte fast jeder. Aber wie wär's, wenn wir den Sex erst mal beiseite ließen?«
»Für mich gibt es keine scharfe Grenze zwischen Sex und Geschäft«, sagte sie ruhig.
»Und Sie können mich nicht runtermachen. Sex ist ein Netz, mit dem man Tölpel fängt.
Einige von den Tölpeln sind nützlich und großzügig. Manchmal ist einer dabei, der gefährlich ist.«
Sie schwieg nachdenklich.
Ich sagte: »Wenn Sie darauf warten, daß ich irgendwas darüber sage, wer ein gewisser jemand ist - bitte: ich weiß, wer es ist. «
»Können Sie es beweisen?«
»Wahrscheinlich nicht. Die Polypen konnten es auch nicht.«
»Die Polypen«, sagte sie verächtlich. »Die sagen nicht immer alles, was sie wissen. Sie beweisen nicht alles, was sie beweisen könnten. Ich nehme an, Sie wissen, daß er vergangenen Februar zehn Tage im Gefängnis saß.«
»Ja.«
»Ist es Ihnen nicht komisch vorgekommen, daß er keine Kaution gestellt hat, um freizukommen?«
»Ich weiß ja nicht, weswegen
Weitere Kostenlose Bücher