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Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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nur weg von diesem eisigen Stern.
    Das Telefon klingelte.
    »Amigo«, sagte ihre Stimme. »Es gibt Arger. Bösen Arger. Sie möchte Sie sehen. Sie mag Sie gern. Sie glaubt, Sie sind ein ehrlicher Kerl.«
    »Wo?« fragte ich. Es war nicht eigentlich eine Frage, bloß so ein Geräusch von mir. Ich sog an einer kalten Pfeife, stützte den Kopf auf die Hand und brütete über dem Telefon.
    Wenigstens eine Stimme, mit der man reden konnte.
    »Kommen Sie?«
    »Heute abend setze ich mich sogar zu einem kranken Papagei. Wohin soll ich kommen?«
    »Ich komme zu Ihnen. In fünfzehn Minuten bin ich vor Ihrem Bürohaus. Der Weg da raus ist nicht leicht zu finden.«
    »Und wie ist es mit dem Rückweg«, sagte ich, »Oder ist uns das egal?«
    Aber sie hatte schon eingehängt.
    Unten, an der Theke des Drugstores, hatte ich noch Zeit, zwei Tassen Kaffee herunterzuschütten und ein heißes Käse-Sandwich zu essen, in dem zwei Stückchen Ersatz-Schinken vergraben waren - wie tote Fische im Schlick eines trockengelegten Tümpels.
    Ich mochte es. Ich war völlig durchgedreht.

26
    Es war ein schwarzes Mercury-Cabrio mit hellem Verdeck. Das Verdeck war zurückgeschlagen. Als ich mich über die Tür beugte, rutschte Dolores Gonzales zu mir hin auf den Ledersitz.
    »Fahren Sie doch bitte, Amigo. Ich fahre eigentlich nie sehr gern.«
    Das Licht vom Drugstore erhellte ihr Gesicht. Sie hatte sich wieder umgezogen, aber es war wieder alles schwarz, außer einer feuerfarbenen Bluse. Hosen und eine Art lockerer Jacke, wie ein Freizeitjackett für Männer.
    Ich lehnte mich gegen die Wagentür. »Warum hat sie mich nicht selbst angerufen?«
    »Konnte sie nicht. Sie hatte die Nummer nicht, und sie hatte sehr wenig Zeit.«
    »Wieso?«
    »Anscheinend war es, als gerade jemand einen Augenblick das Zimmer verlassen hatte.«
    »Und wo ist das, von wo sie angerufen hat?«
    »Ich weiß nicht, wie die Straße heißt. Aber ich finde das Haus. Deshalb bin ich gekommen. Steigen Sie bitte ein, wir müssen uns beeilen.«
    »Vielleicht«, sagte ich. »Aber vielleicht steige ich auch nicht ein. Das Alter und die Arthritis machen mich vorsichtig. «
    »Immer die kleinen Witze«, sagte sie. »Was für ein seltsamer Mann.«
    »Witze, solange es geht«, sagte ich. »Und ein ganz gewöhnlicher Bursche, der bloß einen Kopf hat - und mit dem ist manchmal recht übel umgegangen worden. Und diese
    >manchmal< haben meistens so angefangen wie jetzt.«
    »Schlafen Sie heute abend mit mir?« fragte sie weich.
    »Das ist so 'ne Sache. Wahrscheinlich nicht.«
    »Es wäre bestimmt keine Zeitverschwendung. Ich bin keine von diesen künstlichen Blondinen, mit so 'ner Haut, wo man Streichhölzer dran anzünden kann. Nicht so eine frühere Wäscherin mit großen Knochenhänden und scharfen Knien und sinnlosen Brüsten.«
    »Bitte«, sagte ich, »können wir mal eine halbe Stunde ohne Sex auskommen? Es ist eine prima Sache, wie ein Banana-Split. Aber manchmal würde man sich lieber die Gurgel abschneiden. Vielleicht hätte ich mir lieber meine abschneiden sollen.«
    Ich ging um den Wagen herum, schob die Beine unters Steuer und ließ den Motor an.
    »Wir fahren nach Westen«, sagte sie, »Beverly Hills durch und dann weiter.«
    Ich ließ die Kupplung los und glitt um die Ecke nach Süden, Richtung Sunset. Dolores zog eine ihrer langen braunen Zigaretten heraus.
    »Haben Sie einen Revolver dabei?« fragte sie.
    »Nein. Was soll ich mit einem Revolver?« Ich drückte mit der Innenseite meines Arms gegen die Luger im Schulterhalfter.
    »Vielleicht ist es wirklich so besser.« Sie klemmte die Zigarette in das kleine goldene Klemmdings und zündete sie mit dem Feuerzeug an. Das Licht, das ihr Gesicht erhellte, schien in ihren tiefschwarzen Augen zu versinken.
    Auf dem Sunset Boulevard fuhr ich nach Westen, ließ mich auf der dreispurigen Fahrbahn von Rennfahrern mitreißen, die ihre Fahrzeuge jagten - nach nirgendwo, um nichts zu tun.
    »Was für eine Art von Arger hat Mavis Weld?«
    »Ich weiß nicht. Sie sagte nur, daß sie in der Klemme sitzt und Angst hätte und Ihre Hilfe bräuchte.«
    »Können Sie sich wirklich keine bessere Geschichte ausdenken?«
    Sie antwortete nicht. Ich hielt vor einer Verkehrsampel und sah sie von der Seite an. Sie weinte leise im Dunkeln.
    »Ich würde Mavis Weld nie das geringste zuleide tun«, sagte sie. »Ich erwarte ja gar nicht, daß Sie mir glauben.«
    »Andererseits«, sagte ich, »es ist vielleicht ganz gut, daß Ihnen was Vernünftiges eingefallen

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