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Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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antworten.
    Ich stand einfach so da und sah sie an. Die Wunde zwischen meinen Schultern schmerzte irgendwie trocken, das Fleisch drum herum war hart. Eine Seite meines Gesichts und vom Mund spannte, da wo Maglashan mir mit seinem abgetragenen schweinsledernen Handschuh eine gewischt hatte. Ich war im tiefen Wasser. Es war dunkel und trübe, und der Geschmack von Salz war in meinem Mund.
    Sie saßen einfach da und sahen mich wieder an. Die orangerote Fee klapperte an der Schreibmaschine. Polypen-Slang war für sie genausowenig eine Delikatesse wie Beine für einen Ballettmeister. Sie hatten die ruhigen wetterharten Gesichter von stark trainierten Männern. Sie hatten Augen, wie diese Typen meistens haben, wolkig grau wie frierendes Wasser. Den festgeschlossenen Mund, harte Fältchen an den Augenwinkeln, den hohlen, harten, ausdruckslosen Blick, nicht direkt grausam, doch tausend Meilen jenseits der Güte. Die trübseligen Kleider von der Stange, stillos getragen, irgendwie verächtlich; das Aussehen von Leuten, die arm sind und doch stolz auf ihre Macht, die immer drauf aus sind, daß man sie fühlt, die es dir stecken und dann rumdrehen, grinsen und hinsehen, wie du dich windest, skrupellos ohne Bosheit, grausam und doch nicht immer unfreundlich. Was sollte man auch von ihnen erwarten?
    Zivilisiertheit bedeutet ihnen nichts. Was ihnen vor Augen kam, waren wir Versager, der Schmutz, der Bodensatz, die Perversionen und der Ekel.
    »Was stehen Sie denn rum?« fragte Beifus scharf. »Sollen wir Ihnen noch einen dicken, fetten Schmatz geben? Kein knusperiges Witzchen mehr auf Lager? Ein Jammer.«
    Seine Stimme sackte ab, nur noch ein schwaches Brummen. Er runzelte die Stirn und griff nach einem Stift auf dem Tisch. Mit einer schnellen Handbewegung brach er ihn entzwei und hielt mir die beiden Hälften hin, nebeneinander auf dem Handteller.
    »Diese kleine Chance geben wir Ihnen noch«, sagte er tonlos, jetzt ohne das geringste Lächeln. »Schieben Sie ab, und bringen Sie alles in Ordnung. Was meinen Sie wohl, warum wir Sie nochmal laufenlassen? Maglashan hat Ihnen ein Hintertürchen aufgemacht. Nutzen Sie's aus.«
    Ich hob meine Hand und strich mir über die Lippen. In meinem Mund waren zu viele Zähne.
    Beifus senkte seinen Blick zum Tisch, nahm ein Papier und fing an, es zu lesen. Christy French drehte sich in seinem Sessel, legte seine Füße auf das Pult und starrte durch das offene Fenster auf den Parkplatz. Die orangerote Fee hörte auf zu tippen. Plötzlich erfüllte eine schwere Stille den Raum - wie eine runtergefallene Torte.
    Ich ging hinaus, ich schwamm durch die Stille wie durch Wasser.

25
    Das Büro war wieder leer. Keine Brünetten mit schönen Beinen, keine Mädchen mit schrägen Brillengläsern, keine dunklen Dandys mit den Augen von Gangstern.
    Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und sah zu, wie das Tageslicht hinschwand. Die Geräusche der Nach-Hause-Gehenden waren verklungen. Draußen fingen die Neonschilder an, einander über den Boulevard anzustrahlen. Irgendwas mußte geschehen, aber ich wußte nicht was. Egal, was ich tat, es war nutzlos. Ich machte meinen Schreibtisch sauber und horchte nach dem Schaben eines Eimers auf den Korridorfliesen. Ich legte meine Papiere weg, in die Schublade, stellte den Füller-Ständer gerade, nahm ein Staubtuch, wischte das Glas ab und dann das Telefon. Im nachlassenden Licht war es dunkel und dünn. Diesen Abend wollte es nicht klingeln.
    Keiner wollte mich mehr anrufen, jedenfalls nicht jetzt, um diese Zeit. Vielleicht überhaupt nicht mehr.
    Ich legte das Staubtuch wieder weg, zusammengefaltet, mit dem Staub drin, lehnte mich zurück und saß einfach da, rauchte nicht, dachte nicht. Ich war ein leerer Mensch.
    Hatte kein Gesicht, keinen Sinn, keinen Charakter, kaum einen Namen. Ich wollte nichts essen. Ich wollte nicht mal was trinken. Ich war das Kalenderblatt von gestern, das zerknüllt im Papierkorb lag.
    Ich holte mir das Telefon her und wählte die Nummer von Mavis Weld. Es klingelte, klingelte, klingelte. Neunmal. Das ist viel geklingelt, Marlowe. Wird wohl niemand zu Hause sein. Für dich niemand da. Ich legte auf. Wen willst du jetzt anrufen? Hast du irgendwo einen Freund, der vielleicht deine Stimme hören will? - Nein. Niemand.
    Mach, daß das Telefon klingelt, bitte. Mach, daß es jemanden gibt, der anruft und mich wieder in die Menschheit einstöpselt. Meinetwegen auch ein Bulle. Meinetwegen ein Maglashan. Niemand braucht mich zu lieben. Ich will

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