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Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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Boden.
    »Mehr«, sagte sie und hielt das Glas hin. Ich goß ein. »Und Sie?«
    »Trinke nicht. Meine Gefühle werden so schon genug durchgewalkt.«
    Bei dem zweiten Drink schüttelte sie sich. Aber der blaue Schein auf ihrem Mund war vergangen, die Lippen glühten nicht mehr wie Verkehrsampeln, und die kleinen, eingeritzten Linien an ihren Augenwinkeln waren nicht mehr so deutlich.
    »Wer walkt denn Ihre Gefühle durch?«
    »Ach, ein Haufen Frauen, die dauernd ihre Arme um meinen Hals schlingen und in Ohnmacht fallen, geküßt werden müssen und so weiter. Ein paar randvolle Tage für einen kaputten Schnüffler und nicht mal eine Jacht.«
    »Keine Jacht«, sagte sie. »Das wäre nichts für mich. Ich bin reich aufgewachsen.«
    »Hmhrn«, sagte ich. »Sie sind mit einem Cadillac im Mund geboren. Und ich könnte auch raten, wo.«
    Ihre Augen wurden schmal. »ja?«
    »Sie haben doch nicht geglaubt, daß es niemand rauskriegt, oder?«
    »Ich - Ich -« sie brach ab und machte eine hilflose Geste. »Mir fällt heute abend nichts Gutes ein.«
    »Das kommt durch den Technicolor-Dialog«, sagte ich. »Der friert einem den Mund zu.«
    »Reden wir nicht wie ein paar Verrückte?«
    »Wir könnten auch vernünftig werden. Wo ist Steelgrave?«
    Sie sah mich nur an. Sie streckte ihr leeres Glas hin, ich nahm es ihr ab und stellte es blindlings irgendwohin, ohne die Augen von ihr abzuwenden. Auch sie wandte die ihren nicht ab. Eine lange Minute schien zu verstreichen.
    »Er war hier«, sagte sie schließlich, so langsam, als müßte sie jedes Wort einzeln erfinden. »Kann ich eine Zigarette bekommen?«
    »Der alte Pausen-Füller, mit der Zigarette«, sagte ich. Ich holte zwei heraus, nahm sie in den Mund und zündete sie an. Ich beugte mich vor und steckte sie zwischen ihre dunkelroten Lippen.
    »Was Altmodischeres gibt's kaum«, sagte sie. »Vielleicht noch den Schmetterlingskuß.«
    »Sex ist was Herrliches«, sagte ich. »Wenn man sich um Antworten rumdrücken will.«
    Sie paffte ein bißchen, kniff die Augen, hob die Hand, um die Zigarette zurechtzurücken. Nach so vielen Jahren bringe ich es noch immer nicht fertig, einer Dame die Zigarette dahin zu stecken, wo sie sie haben will.
    Sie machte eine schnelle Kopfbewegung, ließ das weiche, lockere Haar um ihre Schläfen fliegen und beobachtete mich, um zu sehen, wie es mich beeindruckte. Das Weiß war jetzt ganz verschwunden. Ihre Wangen waren leicht gerötet. Aber hinter ihren Augen lag noch etwas und wartete,
    »Sie sind ganz nett«, sagte sie, als ich keine Aufregung zeigte. »Dafür, daß Sie so ein Typ sind.«
    Auch das überstand ich gut.
    »Aber eigentlich weiß ich gar nicht genau, was für ein Typ Sie wirklich sind, oder?« Sie lachte plötzlich, und eine Träne kam von nirgendwo und glitt über die Wange nach unten. >Sie könnten gottweißwas für ein Kerl sein, und dafür nett.« Sie nahm die Zigarette ab, legte die Hand an den Mund und biß sie. »Was ist bloß los mit mir? Bin ich blau?«
    »Sie wollen Zeit gewinnen«, sagte ich. »Aber ich weiß nicht, was ich glauben soll: Ist es, damit jemand rechtzeitig herkommt - oder damit jemand weit genug fortkommt. Aber vielleicht ist es wirklich nur der Kognak, zusammen mit dem Schock. Sie sind ein kleines Mädchen und wollen in Mutters Schürze weinen.«
    »Nicht bei meiner Mutter«, sagte sie. »Eher würde ich in eine Regentonne weinen.«
    »Also, das Spiel liegt auf. jetzt geht's los. Wo ist Steelgrave?«
    »Egal, wo er ist - seien Sie froh. Er wollte Sie töten. jedenfalls dachte er das.«
    »Sie wollten mich hier haben, stimmt's? Mochten Sie ihn so gern?«
    Sie blies Zigarettenasche von ihrem Handrücken. Etwas davon kam mir ins Auge, und ich mußte blinzeln.
    »Ich muß ihn gemocht haben«, sagte sie. »Früher.« Sie legte ihre Hand aufs Knie, spreizte die Finger, betrachtete die Fingernägel. Sie blickte langsam auf, ohne ihren Kopf zu bewegen. »Es kommt mir vor wie vor tausend Jahren, da lernte ich einen ruhigen, netten kleinen Menschen kennen, der sich gut benehmen konnte und nicht in jeder Kneipe in der Stadt mit seinem Charme um sich warf. ja, ich hatte ihn gern. Ich hatte ihn sehr gern.«
    Sie legte ihre Hand an den Mund und biß auf die Knöchel. Dann steckte sie ebendiese Hand in die Tasche ihrer Pelzjacke und förderte einen Revolver mit weißem Griff zutage, dessen Zwilling ich bei mir hatte.
    »Am Ende liebte ich ihn damit«, sagte sie.
    Ich ging rüber und nahm ihn aus ihrer Hand. Ich roch an der

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