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Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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herum, und ihr Gesicht war nicht so weiß wie Kalk, weil das Licht nicht weiß war.
    »Ebenfalls grüß Gott«, sagte sie mit abgestorbener Stimme. »Ich glaube noch immer, daß Sie zu spät kommen.«
    »Zu spät für was?«
    Ich ging auf sie zu, eine Bewegung, die immer ein Vergnügen war. Sogar jetzt, sogar in diesem allzu stillen Haus.
    »Sie sind ziemlich schlau«, sagte sie. »Ich hätte nicht gedacht, daß Sie so schlau sind.
    Sie sind also reingekommen. Sie ... « - Ihre Stimme hakte aus und erstickte in der Kehle.
    »Ich brauche was zu trinken«, sagte sie nach einer schweren Pause. »Sonst falle ich noch um.«
    »Das ist ein herrlicher Mantel«, sagte ich. Ich war jetzt bei ihr. Ich streckte die Hand aus und faßte sie an. Sie bewegte sich nicht. Ihr Mund schob sich vor und zurück und zitterte.
    »Steinmarder«, flüsterte sie. »Vierzigtausend Dollar. Geliehen. Für den Film.«
    »Gehört das auch zum Film?« Ich machte eine halbkreisförmige Geste zum Raum.
    »Dieser Film beendet alle Filme - jedenfalls für mich. Ich muß jetzt diesen Drink haben.
    Wenn ich jetzt versuche zu laufen ... « - die glockenklare Stimme verhauchte. Ihre Augenlider zuckten auf und ab.
    »Los - fallen Sie in Ohnmacht«, sagte ich. »Wenn Sie wieder hochkommen, fang ich Sie auf.«
    Ihr Gesicht mühte sich um ein Lächeln. Sie kniff die Lippen zusammen, sie kämpfte mit sich, um aufrecht zu bleiben.
    »Wieso bin ich zu spät gekommen?« fragte ich. »Wofür zu spät?«
    »Zu spät, um erschossen zu werden.«
    »Quatsch. Den ganzen Abend hab ich mich drauf gefreut. Miss Gonzales hat mich hergebracht.«
    »Ich weiß.«
    Ich streckte die Hand aus und faßte nochmal den Pelz an. Vierzigtausend Dollar fassen sich gut an, sogar wenn sie geliehen sind.
    »Dolores wird wahnsinnig enttäuscht sein«, sagte sie, mit einem weißen Rand um den Mund.
    »Nein.«
    »Sie hat Sie genau ins Schußfeld gebracht - genau wie Stein.«
    »Vielleicht wollte sie das. Aber sie hat es sich anders überlegt.«
    Sie lachte. Es war ein dummes, künstliches Lachen, wie von einem Kind, das bei einer Kinderparty mondän sein will.
    »Was sind Sie doch für ein Weiberheld«, flüsterte sie.
    »Wie machen Sie das nur, Mister Fabelhaft? Mit gedopten Zigaretten? Ihr Anzug kann es nicht sein, auch nicht Geld oder Persönlichkeit. Das haben Sie alles nicht. Sie sind nicht jung, Sie sind nicht schön. Sie haben die besten Tage hinter sich ... «
    Sie redete immer schneller, wie ein Motor mit einem kaputten Regler. Am Schluß schnatterte sie. Als sie aufhörte, segelte ein ausgehauchter Seufzer durch die Stille, ihre Knie knickten ein, und dann fiel sie direkt nach vorne in meine Arme.
    Wenn es gespielt war, war's gut gemacht. ich hätte alle neun Taschen voll Pistolen haben können, und sie hätten mir nicht mehr genützt als neun kleine rosa Kerzen auf einem Geburtstagskuchen.
    Aber es passierte nichts. Keine lederharten Typen, die an mir herumfummelten, mit Revolvern in den Händen. Kein Steelgrave lächelte mir zu mit seinem schwachen, trockenen, fernen Mörderlächeln. Keine verstohlenen Schritte näherten sich von hinten.
    Sie hing in meinen Armen, schlaff wie ein Geschirrtuch, nicht ganz so schwer wie Orrin Quest - weil auch nicht ganz so tot; aber sie war schwer genug, daß die Sehnen in meinen Kniegelenken schmerzten. Ihre Augen waren geschlossen, als ich ihren Kopf von meiner Brust wegbog. Ihr Atem war lautlos, und sie hatte diesen bläulichen Schein auf den geöffneten Lippen.
    Ich schob meine rechte Hand unter ihre Knie, trug sie hinüber zu einer goldenen Couch und legte sie lang hin. Ich richtete mich auf und ging weiter zur Bar. An der Ecke stand ein Telefon, aber ich kam nicht durch die Flaschen durch. Ich mußte über die Theke hechten. Ich erwischte eine Flasche, die richtig aussah, mit einem blausilbernen Etikett und fünf Sternen drauf. Der Korken war locker. Ich schüttete einen dunklen, stark duftenden Kognak in ein unpassendes Glas und schwang mich wieder über die Theke; die Flasche nahm ich mit.
    Sie lag noch genauso wie vorhin, aber ihre Augen waren offen.
    »Können Sie ein Glas halten?«
    Sie konnte, wenn man etwas half. Sie trank den Kognak und drückte den Rand des Glases fest an die Lippen, wie um sie zur Ruhe zu zwingen. Ich sah, wie sie in das Glas atmete und wie es beschlug. Allmählich entstand ein Lächeln auf ihrem Mund.
    »Es ist kalt heute abend«, sagte sie.
    Sie schwang ihre Beine über den Couchrand und setzte die Füße auf den

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