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Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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Mündung. ja. jetzt waren es zwei, aus denen geschossen worden war.
    »Wollen Sie ihn nicht in ein Taschentuch wickeln, so wie sie's immer in den Filmen machen?«
    Ich ließ ihn einfach in meine andere Tasche rutschen; ein paar interessante Tabakkrümel und gewisse Samen, die nur am südöstlichen Hang des Rathauses von Beverly Hills wachsen, konnten dran kleben bleiben. Vielleicht konnte sich ein Polizeichemiker eine Zeitlang damit amüsieren.

28
    Einen Augenblick lang beobachtete ich sie und biß auf meine Lippen. Sie beobachtete mich. Ich bemerkte keine Veränderung des Ausdrucks. Dann begann ich, den Raum mit Blicken zu durchsuchen. Von einem der langen Tische hob ich den Schonbezug hoch.
    Darunter waren die Felder eines Roulettes, aber kein Rouletterad. Unter dem Tisch war nichts.
    »Versuchen Sie den Sessel mit den Magnolien drauf«, sagte sie.
    Sie sah nicht hin, und ich mußte ihn alleine finden. Merkwürdig, wie lange ich dazu brauchte. Es war ein Armsessel mit hoher Rückenlehne, mit geblümtern Chintz bezogen - so ein Stuhl, der vor langer Zeit einmal die Zugluft anhalten sollte, während man vor einem Kamin mit einem Kohlenfeuer hockte.
    Er stand mit dem Rücken zu mir. Ich ging rüber, sanft im ersten Gang. Er stand fast der Wand gegenüber. Trotzdem war es lächerlich, daß ich ihn vorhin noch nicht bemerkt hatte, als ich von der Bai zurückgekommen war. Er lehnte in der Ecke des Sessels, mit zurückgebogenem Kopf. Seine Nelke war rot und weiß und sah so frisch aus, als hätte das Blumenmädchen sie ihm gerade eben ans Revers gesteckt. Seine Augen waren halb geöffnet, wie solche Augen es meistens sind. Sie starrten auf einen Punkt an der Zimmerdecke. Ein Geschoß hatte die Außentasche seines zweireihigen Jacketts durchbohrt. Es war von jemandem abgefeuert worden, der wußte, wo das Herz saß.
    Ich berührte seine Wange, sie war noch warm. Ich hob seine Hand hoch und ließ sie fallen. Sie war ganz weich. Sie fühlte sich an wie ein menschlicher Handrücken. Ich griff nach seiner Halsschlagader. Es bewegte sich kein Blut in ihm, und ganz wenig Blut hatte sein Jackett befleckt. Ich wischte meine Hände mit dem Taschentuch ab und blieb noch eine Weile stehen - betrachtete sein stilles kleines Gesicht. Alles, was ich getan hatte, alles Unrechte und alles Richtige - alles umsonst.
    Ich kehrte zurück, setzte mich in ihrer Nähe hin und knetete meine Knie.
    »Was hätte ich denn tun sollen - Ihrer Ansicht nach?« fragte sie. »Er hat meinen Bruder umgebracht.«
    »Ihr Bruder war kein Engel.«
    »Er mußte ihn nicht töten.«
    »Irgend jemand mußte es - und zwar schnell.«
    Ihre Augen wurden plötzlich weit.
    Ich sagte. »Haben Sie sich mal überlegt, warum Steelgrave mich nie verfolgt hat und warum er zugelassen hat, daß Sie gestern ins Van Nuys Hotel gingen, anstatt selbst zu gehen? Haben Sie sich nie überlegt, warum ein Kerl mit seinen Möglichkeiten nie versucht hat, an die Fotos ranzukommen - egal, mit welchen Mitteln?«
    Sie antwortete nicht.
    »Wie lange wußten Sie, daß es diese Fotos gab?« fragte ich.
    »Viele Wochen, beinahe zwei Monate. Ich bekam eines mit der Post, ein paar Tage danach - nachdem wir zusammen gegessen hatten.«
    »Nachdem Stein gekillt wurde.«
    »Ja, natürlich.«
    »Glaubten Sie, daß Steelgrave Stein getötet hat?«
    »Nein, warum auch? Das heißt: nicht - bis heute abend.«
    »Was passierte, nachdem Sie das Foto bekommen hatten?«
    »Mein Bruder Orrin rief mich an und sagte, daß er seine Stellung verloren hätte und pleite sei. Er wollte Geld. Er sagte nichts über das Foto. Brauchte er auch nicht. Es gab nur eine Gelegenheit, bei der es geknipst worden sein mußte.«
    »Wie bekam er Ihre Nummer?«
    »Telefonnummer? Wie haben Sie sie denn gekriegt?«
    »Gekauft.«
    »Also -« Sie machte eine ungewisse Handbewegung. »Warum. rufen wir nicht die Polizei und bringen es hinter uns.«
    »Moment mal. Also wie ging's weiter? Weitere Abzüge von dem Foto?«
    »jede Woche einen. Ich zeigte sie ihm.« Sie machte eine Handbewegung zu dem Chintzsessel. »Es gefiel ihm nicht. Ich sagte ihm nichts von Orrin.«
    »Er muß es gewußt haben. Leute von seiner Sorte kriegen so was raus.«
    »Das glaube ich auch.«
    »Aber wo Orrin sich versteckte, das konnte er nicht wissen. Sonst hätte er nicht so lange gewartet. Wann haben Sie's Steelgrave gesagt?«
    Sie blickte zur Seite. Ihre Finger preßten ihren Arm. »Heute«, sagte sie mit einer fernen Stimme.
    »Warum heute?«
    Ihr Atem stockte

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