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Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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Warteraum, eine Reihe harter Stühle, alle in die gleiche Richtung, auf die Kabinen hinblickend. Etwa die Hälfte der Stühle waren in Benutzung -
    Leute, die warteten, mit dem Ausdruck von langem Warten und der Erwartung von noch längerem Warten, das vor ihnen lag. Die meisten von ihnen waren schäbig. Einer kam aus dem Gefängnis, in gestreifter Kleidung, mit einer Wache. Ein junge, mit kalkigem Gesicht, mit dem Körper eines Fußballspielers, mit leeren, kranken Augen.
    Hinter der Reihe der Kabinen war eine Tür mit der Inschrift SEWELL ENDICOTT, Distriktsstaatsanwalt. Ich klopfte an und trat in ein großes, luftiges Eckzimmer. Ein ganz nettes Zimmer, altmodisch, mit schwarzen, ledernen Polsterstühlen und den Bildern ehemaliger Staatsanwälte und Gouverneure an den Wänden. Eine Brise bewegte die Tüllvorhänge an den vier Fenstern. Ein Ventilator hoch auf einem Bord surrte und drehte sich langsam hin und her.
    Sewell Endicott saß hinter einem niedrigen, dunklen Schreibtisch und beobachtete, wie ich hereinkam. Er zeigte auf einen Sessel ihm gegenüber. Ich setzte mich. Er war groß, schmal und dunkel mit lockerem, schwarzem Haar und langen, feinen Fingern.
    »Sind Sie Marlowe?« sagte er mit einer weichen, südlich angehauchten Stimme.
    Ich glaubte nicht, daß darauf eine Antwort nötig war. Ich wartete einfach.
    »Sie sind schlecht dran, Marlowe. Sieht gar nicht gut aus. Man hat Sie erwischt, wie Sie Beweismittel unterschlagen haben, mit denen ein Mordfall geklärt werden konnte. Das heißt die Gerechtigkeit aufhalten. Sie könnten belangt werden.«
    »Was für Beweismittel denn?« fragte ich.
    Er nahm ein Foto von seinem Schreibtisch und betrachtete es stirnrunzelnd. Ich sah hinüber zu den anderen Leuten in dem Raum. Sie saßen in Sesseln nebeneinander.
    Mavis Weld war eine von ihnen. Sie trug eine dunkle Brille mit breitem weißen Rand.
    Ich konnte ihre Augen nicht sehen, aber mir schien, daß sie mich anschaute. Sie lächelte nicht. Sie saß sehr still.
    Neben ihr saß ein Mann in einem herrlichen blaßgrauen Flanellanzug; im Aufschlag steckte eine Nelke so groß wie eine Dahlie. Er rauchte eine Zigarette mit Monogramm und schnippte die Asche auf den Boden, ohne den Aschenständer neben seinem Arm zu beachten. Ich kannte ihn von Bildern her, die ich in Zeitungen gesehen hatte. Lee Farrell, einer der begehrtesten Anwälte für schwierige Fälle. Sein Haar war weiß, aber seine Augen waren hell und jung. Er hatte eine tiefe Sonnenbräune. Er sah aus, als würde ein Händedruck von ihm tausend Dollar kosten.
    Endicott lehnte sich zurück und trommelte mit seinen langen Fingern auf der Lehne seines Sessels. Mit devoter Höflichkeit wandte er sich an Mavis Weld.
    »Und wie gut kannten Sie Steelgrave, Miss Weld?«
    »Wir waren eng befreundet. In mancher Hinsicht war er sehr charmant. Ich kann kaum glauben ... «, sie brach ab und zuckte die Achseln.
    »Und Sie sind also bereit zu beeiden, wann und wo dieses Foto aufgenommen worden ist?« Er drehte das Foto und zeigte es ihr.
    Farrell sagte gleichgültig: »Moment mal. Ist das das Beweisstück, das Mr. Marlowe unterdrückt haben soll?«
    »Ich stelle die Fragen«, sagte Endicott scharf.
    Farrell lächelte. »Nun, falls die Antwort >ja< ist - dieses Foto beweist gar nichts.«
    Endicott sagte sanft: »Werden Sie meine Frage beantworten, Miss Weld?«
    Sie sagte leicht und ruhig: »Nein, Mr. Endicott, ich könnte nicht beschwören, wann dieses Bild aufgenommen wurde oder wo. Ich habe nicht gemerkt, daß es aufgenommen wurde.«
    »Sie brauchen doch nur drauf zu schauen«, meinte Endicott.
    »Alles, was ich weiß, entnehme ich dem Bild«, sagte sie zu ihm.
    Ich grinste. Farrell sah mich an und zwinkerte. Endicott bemerkte das Grinsen aus einem Augenwinkel. »Was ist denn da so lustig?« fuhr er mich an.
    »Ich war die ganze Nacht wach. Mein Gesicht rutscht mir weg«, sagte ich.
    Er warf mir einen bösen Blick zu und wandte sich wieder zu Mavis Weld. »Können Sie das näher erklären, Miss Weld?«
    »Von mir werden viele Fotos aufgenommen, Mr. Endicott. An vielen verschiedenen Orten und mit vielen verschiedenen Leuten. Ich war mittags und abends in >The Dancers< mit Mr. Steelgrave zum Essen, ebenso wie mit verschiedenen anderen Herren. Ich weiß nicht, was Sie von mir hören wollen.«
    Farrell kam behende dazu: »Wenn ich Ihre Absicht recht verstehe, wollen Sie, daß Miss Weld als Ihr Zeuge auftritt, um dieses Foto in einen Zusammenhang zu bringen. In was für einem

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