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Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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Eisdorn gefunden. Er wollte es Ihnen bloß nicht sagen.«
    »Man braucht ja wohl noch etwas mehr an Beweisen.«
    »Es gibt mehr, aber die ganze Sache ist erledigt. Clausen und auch Marston waren vorbestraft. Der junge ist tot. Seine Familie ist angesehen. Er hatte komische Neigungen und geriet an die falschen Leute. Es hat keinen Sinn, die Familie reinzuziehen, nur um zu beweisen, daß die Polizei einen Fall aufklären kann.«
    »Das ist schön von Ihnen. Wie steht's mit Steelgrave?«
    »Damit habe ich nichts mehr zu tun.« Er war im Begriff aufzustehen. »Wenn es einen Gangster erwischt hat, wie lange dauert wohl die Untersuchung?«
    »Solange es für Schlagzeilen reicht«, sagte ich. »Aber hier geht es auch noch um eine Frage der Identität.«
    »Nein.«
    Ich starrte ihn an. »Wie meinen Sie das >nein    »Einfach - nein. Wir sind sicher.« Er stand jetzt aufrecht. Er strählte sich das Haar mit den Fingern und brachte Schlips und Hut in Ordnung. Aus einem Mundwinkel sagte er halblaut: »Ganz unter uns - wir waren schon immer sicher. Wir konnten es nur nicht beweisen.«
    »Vielen Dank«, sagte ich. »Ich sag's nicht weiter. Wie steht's mit den Revolvern?«
    Er blieb stehen und sah auf den Tisch herunter. Seine Augen erhoben sich ziemlich langsam, bis wir uns begegneten. »Beide gehörten Steelgrave. Außerdem hatte er einen Waffenschein. Vom Sheriff eines anderen Distrikts. Fragen Sie nicht wieso. Eine der beiden« - er unterbrach sich und blickte auf die Wand hinter meinem Kopf - »eine davon tötete Quest ... Und dieselbe Waffe tötete Stein,«
    »Welche denn?«
    Er lächelte schwach. »Das wär schon was, wenn der Ballistiker sie verwechselt hätte und wir es nicht wüßten«, sagte er. Er wartete, daß ich etwas sagte. Ich hatte nichts zu sagen. Er machte eine Handbewegung.
    »Also dann, Wiedersehen. Nichts gegen Sie persönlich, aber hoffentlich zieht Ihnen der Staatsanwalt die Haut ab - in langen schmalen Streifen.«
    Er drehte sich um und ging.
    Ich hätte auch gehen können, aber ich saß nur da und starrte über den Tisch auf die Wand, als hätte ich vergessen, wie man aufsteht. Einige Zeit danach kam die orangerote Fee herein. Sie schloß den Schreibtisch auf, nahm ihren Hut von ihrem unmöglichen Haar und hängte ihre Jacke an einen nackten Haken an der kahlen Wand.
    Sie öffnete das Fenster in ihrer Nähe, nahm die Haube von der Schreibmaschine und steckte Papier hinein. Dann sah sie zu mir herüber.
    »Warten Sie auf Jemanden?«
    »Ich wohne hier«, sagte ich. »Schon die ganze Nacht.«
    Einen Augenblick lang sah sie mich unverwandt an. »Sie waren gestern nachmittag hier. Jetzt weiß ich wieder.«
    Sie drehte sich zu ihrer Schreibmaschine, und ihre Finger fingen an zu fliegen. Durch das offene Fenster hinter ihr kam Gebrumm der Autos, die allmählich den Parkplatz füllten. Der Himmel hatte einen weißen Glanz, es war nicht viel Smog. Es würde ein heißer Tag werden.
    Das Telefon klingelte auf dem Schreibtisch der orangeroten Fee. Sie sprach unhörbar hinein und legte auf. Sie blickte wieder zu mir herüber.
    »Mr. Endicott ist in seinem Büro«, sagte sie. »Wissen Sie, wie Sie gehen müssen?«
    »Ich habe da mal gearbeitet. Allerdings nicht für ihn. Wurde entlassen.«
    Sie betrachtete mich mit diesem gewissen Behördenblick. Eine Stimme von irgendwo -
    nur nicht aus ihrem Mund - sagte: »Knallen Sie ihm eine, mit einem nassen Handschuh.«
    Ich ging hinüber, stand in ihrer Nähe, sah auf das orangerote Haar herunter. An den Wurzeln war viel Grau.
    »Wer sagt das?«
    »Die Wand«, sagte sie. »Sie redet. Die Stimmen von toten Männern, die da durch sind und zur Hölle gefahren.«
    Mit leisen Schritten ging ich aus dem Zimmer und zog die Tür ins Schloß, geräuschlos.

32
    Man tritt durch doppelte Schwingtüren ein. Hinter den Schwingtüren ist ein kombinierter Vermittlungs- und Informationsschalter, und dort sitzt eines von diesen alterslosen Mädchen, die man in allen Behörden der Welt sehen kann. Sie waren nie jung und werden nie alt sein. Haben keine Schönheit, keinen Charme, keinen Stil. Sie müssen niemandem gefallen. Nichts kann passieren. Sie sind umgänglich, aber nie höflich, nie intelligent oder kenntnisreich, haben keinerlei Interesse an irgendwas. Sie sind das, was aus Menschen wird, wenn sie ihr Leben gegen eine Existenz eintauschen und ihren Ehrgeiz gegen Sicherheit.
    Hinter dem Schalter ist eine Reihe von verglasten Kabinen, an einer Seite eines langen Raumes. Dahinter ist der

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