Die Kleptomanin
»Ja, überraschend schlau.«
Inspektor Sharpe sah ihn mit wachen Augen an. »Und was schließen Sie daraus, Monsieur Poirot?«
»Dass ich mich frage – noch immer frage – ob ihr irgendjemand anders die Idee eingegeben haben könnte.«
»Aus welchem Grund?«
»Wie soll ich das wissen? Selbstlosigkeit? Irgendwelche Hintergedanken? Wir tappen im Dunkeln.«
»Irgendeine Idee, wer das gewesen sein könnte, der ihr den Tipp gegeben hat?«
»Nein – außer – aber nein…«
»Wie auch immer«, sagte Sharpe grübelnd. »Ich begreife das nicht ganz. Wenn sie diese Sache mit der Kleptomanie ausprobiert hat und damit Erfolg gehabt hat, warum zum Teufel sollte sie dann hingehen und Selbstmord begehen?«
»Die Antwort ist, dass sie eben nicht Selbstmord begehen sollte.«
Die beiden Männer sahen sich an.
Poirot murmelte: »Sind Sie ganz sicher, dass es Selbstmord war?«
»Der Fall ist sonnenklar, Monsieur Poirot. Es gibt keinen Grund, etwas anderes anzunehmen, und…«
Die Tür öffnete sich, und Mrs Hubbard trat ein, das Gesicht gerötet, das Kinn aggressiv vorgestreckt.
»Ich hab’s«, sagte sie triumphierend. »Guten Morgen, Monsieur Poirot. – Ich hab’s, Inspektor Sharpe. Es ist mir ganz plötzlich klar geworden. Warum der Abschiedsbrief so verkehrt aussieht, meine ich. Celia kann ihn unmöglich geschrieben haben.«
»Warum nicht, Mrs Hubbard?«
»Weil er mit gewöhnlicher blauschwarzer Tinte geschrieben ist. Und Celia hatte ihren Füller mit grüner Tinte gefüllt – mit der Tinte da drüben«, Mrs Hubbard nickte in Richtung Regal. »Das war gestern Morgen beim Frühstück.«
Inspektor Sharpe, ein leicht veränderter Inspektor Sharpe, kam in den Raum zurück, den er nach Mrs Hubbards Aussage abrupt verlassen hatte.
»Das stimmt«, sagte er. »Ich habe das überprüft. Der einzige Füller im Zimmer des Mädchens, der, der bei ihrem Bett lag, ist mit grüner Tinte gefüllt. Und diese grüne Tinte…«
Mrs Hubbard hielt die fast leere Flasche hoch. Dann beschrieb sie klar und knapp die Szene gestern am Frühstückstisch. »Ich bin sicher«, sagte sie, »dass das Stück Papier aus dem Brief gerissen worden ist, den Celia mir geschrieben hatte – und den ich nie geöffnet habe.«
»Und was hat sie damit gemacht? Können Sie sich daran erinnern?«
Mrs Hubbard schüttelte den Kopf. »Ich habe sie hier allein zurückgelassen und mich meiner Hausarbeit zugewandt. Ich denke, sie muss ihn hier drinnen irgendwo liegen gelassen und hinterher völlig vergessen haben.«
»Und irgendjemand hat ihn gefunden – und geöffnet – jemand…« Sharpe unterbrach sich. »Ihnen ist doch klar«, sagte er, »was das bedeutet? Ich war von Anfang an nicht besonders glücklich über diesen herausgerissenen Zettel. In ihrem Zimmer lag ein ganzer Stoß Briefpapier – da wäre es doch nur natürlich gewesen, den Abschiedsbrief darauf zu schreiben. Das bedeutet, dass jemand erkannt hat, dass man den Anfangssatz aus ihrem Brief an Sie auch ganz anders verstehen könnte – so als wolle sie etwas völlig anderes andeuten. Einen Selbstmord nämlich…«
Er hielt inne und sagte dann langsam: »Das bedeutet…«
»Mord«, sagte Hercule Poirot.
Achtes Kapitel
O bwohl er persönlich le five o’clock tea ablehnte, weil es ihn bei der angemessenen Würdigung der wichtigsten Mahlzeit des Tages, nämlich des Abendessens, störte, hatte sich Poirot inzwischen ziemlich daran gewöhnt, ihn seinen Gästen zu servieren.
Der einfallsreiche George hatte zu diesem Anlass große Tassen hervorgezaubert, eine Kanne wirklich starken indischen Tees und, zusätzlich zu den heißen und gebutterten rechteckigen Crumpets, Brot und Marmelade und ein großes Stück saftigen Pflaumenkuchens.
Alles mit dem Ziel, Inspektor Sharpe zu erfreuen, der sich zufrieden zurücklehnte und an seiner dritten Tasse Tee nippte.
»Sie haben doch nichts dagegen, dass ich einfach so mitgekommen bin, Monsieur Poirot? Ich habe eine Stunde Zeit, bevor die Studenten wieder zurück sind. Ich muss sie natürlich alle befragen – und, ehrlich gesagt, das ist etwas, worauf ich mich nicht gerade freue. Sie haben einige von ihnen ja vorgestern Abend getroffen, und da dachte ich, vielleicht könnten Sie mir ein paar nützliche Tipps geben – vor allem bezüglich der Ausländer.«
»Sie denken, dass ich Ausländer besonders gut beurteilen kann? Aber, mon cher, da waren keine Belgier dabei.«
»Keine Belg… ah, ich sehe, was Sie meinen! Sie wollen sagen, für Sie
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