Die Klimaprioritaeten
Wenn man 6 000 Hektar Marschland vor der Küste der Hafenstadt Chennai zerstöre, müsse man sich nicht wundern, wenn es keine Pufferzone mehr gebe, meint er. Angesichts der Bevölkerungs- und Siedlungsdichte im Land hält er es für eine Illusion, dass man die katastrophalen Folgen von Hochwasser vor allem dadurch begrenze, indem man wie die Regierung nur darauf vertraue, die Fluten durch Dämme zu kontrollieren. »Wir brauchen einen Paradigmenwechsel. Wie können wir mit Hochwasser besser leben, Häuser auf Stelzen bauen, eine alte, aber verloren gegangen Tradition, und unseren Bauern Pflanzen schmackhaft machen, die auch im stehenden Wasser wachsen können?«
Ob es flut- oder dürreresistenter Reis ist, wann immer man über solche Anpassungstechniken redet, die das Land trotz der Tücken des Klimawandels mit Nahrungsmitteln versorgen sollen |127| , geht mir eine Sache nicht aus dem Kopf: 40 bis 50 Prozent aller Lebensmittel in Indien verrotten laut Weltbank auf dem Weg vom Hersteller zum Abnehmer, sind ungenießbar, wenn sie den Markt oder das Geschäft erreichen. Weil Lastkraftwagen liegen bleiben, keinen Kühlraum haben, die Straßen unpassierbar und Eisenbahnschienen unterspült sind, der Strom ausfällt und Produkte schlecht verpackt werden – kurz, weil die Infrastruktur so marode und mangelhaft ist. Dies ist eine perverse Verschwendung in einem Land, das sich kaum den Verlust eines einzigen Sackes Reis leisten kann.
Lord Stern hatte bei seinem Vortrag deshalb eine klare Botschaft für seine indischen Zuhörer: Ökonomische Entwicklung ist der Schlüssel zu besserer Anpassung. Dies wurde sicher gern gehört, beharrt doch Indiens Regierung in den internationalen Klimaverhandlungen stets darauf, dass
Industrialisierung
Vorrang vor Klimaschutz habe. Doch Stern hatte eine zweite Botschaft, die vielleicht weniger gern vernommen wurde: Damit Entwicklung erfolgreich sei, müsse Indiens Staatswesen effizienter werden. Ein Grund, warum Indien anderen asiatischen Ländern so weit hinterherhinkt beim Ausbau der Infrastruktur, ist der hoffnungslos dysfunktionale öffentliche Sektor, der im Vergleich zur dynamischen
Privatwirtschaft an sowjetische Verhältnisse erinnert. Ohne dessen Reform werde die Mammutaufgabe, sich an den Klimawandel anzupassen, scheitern. Ja, Indiens Modernisierung werde dadurch teurer, ja, die reichen Staaten müssten mit Technologie und Geld helfen, doch auch Indien müsse im eigenen Interesse seine Hausaufgaben machen und könne sich nicht nur auf der historischen Verantwortung des Westens ausruhen.
Um ärmeren Staaten bei Anpassungsschritten unter die Arme zu greifen, gibt es mittlerweile eine Vielzahl von multilateralen |128| Finanzierungsinstrumenten, die allerdings
zusammengenommen
bislang kaum mehr sind als der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein. Einzig ein neu geschaffener Anpassungsfonds der Vereinten Nationen verspricht Erfolg. Der Fonds speist sich aus einer 2-Prozent-Gebühr auf
Emissionsgutschriften
, die Industriestaaten von Klimaprojekten in
Entwicklungsländern
kaufen können, den sogenannten CDM-Vorhaben (siehe das Kapitel »Wandel durch Handel«). Dieser Topf wurde zwar bereits auf der Klimakonferenz 2001 in Marrakesh beschlossen, doch erst während der Klimaverhandlungen in Bali 2007 konnte man sich auf Verfahrensweisen einigen – ein
Verhandlungserfolg
der Entwicklungsländer und eine kleine Revolution. Dies sei faktisch die erste internationale Umweltsteuer, die der Weltgemeinschaft durch die Hintertür aufgedrückt wurde, meint Benito Müller, Klima- und Energiefachmann an der Oxford University. Das Entscheidende: Der Fonds ist nicht abhängig von den freiwilligen und damit stets unzuverlässigen Zuwendungen der reichen Staaten.
Aus dem Topf werden zunächst dringende Projekte finanziert, später sollen auch Organisationen wie zum Beispiel Winrock in Neu Delhi unterstützt werden, die Anpassungsvorhaben initiieren und durchführen. Zur Verfügung standen im Mai 2008 212 Millionen US-Dollar, die Vereinten Nationen schätzen, dass die Summe bis 2012 auf 300 bis 900 Millionen US-Dollar anwachsen könnte. Natürlich sind dies immer noch kleine Fische verglichen mit den weltweit benötigten
Anpassungskosten
. Diese werden von der Hilfsorganisation Oxfam auf jährlich 50 Milliarden US-Dollar geschätzt für Küstenschutz, Umsiedlungen oder Aufforstung, vom
UN-Entwicklungsprogramm
UNDP auf jährlich mindestens 86 Milliarden US-Dollar bis 2015. Doch je größer der
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