Die Klinge: Roman (German Edition)
säuberte sie mit einem Schwamm und Spülmittel und goss frischen Kaffee hinein. Im Arbeits zimmer räumte er auf seinem Schreibtisch einen Platz für die Tasse frei.
Während er an dem Kaffee nippte, las er die fünf Seiten, die er letzte Nacht geschrieben hatte, brachte Korrekturen an, änderte mit seinem roten Stift Wörter und strich manchmal ganze Sätze durch.
Das Telefon klingelte.
Er griff nach unten, wo der Apparat neben seinem Wör terbuch auf dem Boden stand.
»Hallo?«
»Mr. Collins?«
»Ja.«
»Hier ist Charles. Ich hoffe, ich störe Sie nicht.« Das nervöse Zittern in seiner Stimme beunruhigte Ian.
»Nein, ist schon okay. Was ist los?«
»Ich weiß nicht. Ich meine, ich war heute Abend mit Helen verabredet. Ich war mit ihr auf dem Parkplatz vor dem May Company verabredet, aber ich bin zu Hause geblieben.«
»So kann man eine Affäre auch beenden.«
»Ja. Also, das Problem ist, sie hat mich aus dem Kaufhaus angerufen. Mann, war die sauer! Jedenfalls ist mir was über Sie rausgerutscht.«
» Was ist dir über mich rausgerutscht?«
»Dass Sie Bescheid wissen.«
»Aha.« Er spürte ein kurzes Zucken der Beunruhigung in seinem Bauch.
»Sie wollte Ihre Adresse haben.«
»Hast du sie ihr gegeben?«
»Tja, es ist ihr Adressbuch. Tut mir leid. Ich hätte wahrscheinlich nicht …«
»Schon in Ordnung, Charles. Mach dir deswegen keine Gedanken. Sie hätte meine Adresse sowieso leicht herausfinden können. Ich nehme an, sie will mir einen Besuch abstatten.«
»Vermutlich. Ich wollte Ihnen nur Bescheid geben, Sie vorwarnen.«
»Danke, Charles.«
»Entschuldigung.«
»Mach dir keine Gedanken.«
Sie legten auf.
Ian nahm seine Tasse. Sie war halb voll. Der Kaffee war noch heiß und schmeckte gut. Nach ein paar Schlucken stellte er die Tasse wieder ab. Er nahm die Seiten seines Romans und versuchte weiterzulesen, aber er bekam Helen nicht aus dem Kopf. Er ließ den Papierstapel auf den Schreibtisch fallen.
»Das ist ’ne hübsche Nacht, um eine Buhlerin abzukühlen«, murmelte er in Anlehnung an King Lear und trank seine Tasse leer.
34 DIE BESUCHERIN
Lester war auf dem Weg zum Bad, um unter die Dusche zu steigen, als es an der Tür klingelte. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Es klopfte heftig, während er zur Tür ging. Kurz überlegte er, die Sicherheitskette eingehakt zu lassen, bis er sehen könnte, wer dort war. Doch das wäre peinlich. Er wollte nicht als Feigling erscheinen. Also löste er die Kette und öffnete die Tür.
»Guten Abend, Lester.«
»Emily Jean!« Er starrte sie an.
»Möchtest du mich nicht hereinbitten?«, fragte sie in ihrem schleppenden Tonfall. Sie versuchte, vergnügt zu lächeln, doch sie wirkte unsicher und erwartungsvoll.
»Klar. Komm rein. Entschuldigung … Ich bin nur so überrascht, dich zu sehen. Und froh , dich zu sehen.«
Sie trat ein, und Lester schloss schnell die Tür.
»Wie ist es dir ergangen?«, fragte er.
Seltsam. Als würde ich mit einer Fremden sprechen.
Sie ist eine Fremde, dachte er. Fast jedenfalls.
»Ganz gut«, sagte sie. »Und selbst?«
»Tja, okay. Nicht schlecht. Möchtest du dich setzen? Einen Kaffee? Ich könnte eine Tasse Kaffee vertragen, und du?«
»Um ehrlich zu sein, Lester, ein Kuss wäre mir lieber.«
Die Aufforderung verblüffte ihn. Er wäre am liebsten im Erdboden versunken. Er wünschte, er hätte nie die Tür geöffnet, denn das war zu seltsam und beängstigend.
Aber er ging zu Emily Jean und küsste sie auf den Mund.
Merkwürdig. Wirklich merkwürdig.
Ein verheirateter Mann, der in seinem eigenen Haus eine so gut wie fremde Frau küsste.
Warum zum Teufel nicht?
Sie ist so alt .
Aber sie will mich!
So wie sich ihre Brüste an seinem Oberkörper anfühlten, trug Emily Jean heute Abend keinen BH . Ihr Mund war begierig. Sie umschlang ihn fest, fast verzweifelt, als wollte sie verhindern, dass er flüchtete.
Er zog den Kopf zurück und schob sie sanft von sich. Sie blickte ihn fragend und verletzt an.
»Mache ich dir Angst, Lester?«
»Nein, ich hab keine Angst.«
»Ich könnte dir deswegen keinen Vorwurf machen. Manchmal mache ich mir nämlich selbst Angst.« Sie lachte nervös. »Es erschreckt mich, dass ich dich auf diese Art besuche. Ich bin erstaunt, dass ich mich so ungebührlich benehmen kann.«
»Ich auch. Aber ich bin froh drüber.«
»Wirklich?«
»Klar«, sagte er und wusste, dass er nicht besonders überzeugend klang. »Ich bin bloß nervös, das ist alles.«
»Ich bin selbst ein
Weitere Kostenlose Bücher