Die Klinge
Kontakt mit Beck nicht länger zuzumuten wäre. Er schob den Ärmel seines Mantels zurück und schaute auf die Uhr. Dann ging er erneut auf Beck los.
»Mr. Beck, ist bei Ihrer Schweizer Präzision vielleicht vorherzusagen, wie lange diese Farce noch dauern wird?«
»Ungefähr eine halbe Stunde, vielleicht ein paar Minuten länger.«
Beck war nicht anzusehen, was er dachte, als er Arbogasts Blick erwiderte. Er zeigte keinerlei Reaktion auf dessen beleidigende Art. In der Zwischenzeit hatten die Experten drei weitere Behälter überprüft, die anschließend von Hilfspersonal weggetragen, in dünne Styroporfolie eingeschlagen und in eine Holzkiste gepackt wurden, die schon fast voll war. Ein weiterer Helfer stopfte Holzwolle zwischen die einzelnen Zylinder.
Paula hatte den Eindruck, dass die Schweizer Beamten sehr effizient arbeiteten. Mittlerweile hatte es zu regnen begonnen; nicht der erste Schauer dieses Tages, dem verdächtigen Glitzern der diversen Güterwaggons nach zu schließen, die auf den anliegenden Gleisen standen. Noch mindestens eine halbe Stunde in diesem bedrückenden Kessel, dachte Paula und schlenderte ein Stück den Bahnsteig entlang, bis die Sauerstoffbehälter außer Sicht waren. Auf der einzigen Bank, die weit und breit zu sehen war, entdeckte sie Sophie, die neben ihren drei großen Koffern saß.
»Hallo, Sophie«, sagte sie und setzte sich neben die junge Frau auf die Bank. »Was ist denn das? Die Bank ist ja ganz feucht.«
»Ja, es regnet durchs Dach, aber was soll ich machen? Das ist hier die einzige Sitzgelegenheit«, maulte Sophie.
Sophie war von Kopf bis Fuß in wetterfeste Kleidung gehüllt und trug sogar einen großen wasserdichten Hut mit breiter Krempe. Sie schien über Paulas Gegenwart nicht gerade erfreut zu sein. Wahrscheinlich hat sie wieder eine ihre Launen, dachte Paula und zupfte Sophie am Ärmel ihres regendichten Mantels, um sie aufzuheitern.
»Wenigstens haben Sie bei dem Wetter das Richtige an, was man von mir nicht gerade behaupten kann.«
»Was erlauben Sie sich? Ich mag es nicht, wenn Leute mich anfassen. Außerdem habe ich Sie nicht aufgefordert, sich zu setzen.«
»Sie sagten doch, das sei die einzige Sitzgelegenheit …«
»Na und? Deswegen müssen Sie mir noch lange nicht auf die Pelle rücken.«
»Wieso haben Sie sich eigentlich die Mühe gemacht, hierher mitzukommen? Ihr Vater genügt doch als Aufsicht.«
»Weil ich die Wissenschaftlerin bin. Ich hatte in London die Oberaufsicht, als die Sauerstoffflaschen gefüllt wurden, und bin dafür verantwortlich, dass sie in einwandfreiem Zustand beim Käufer ankommen. Aber ich habe gleich gesehen, dass die Schweizer die Überprüfung ordnungsgemäß durchführen. Es sind eben gründliche Leute. Mein Vater glaubt, dass sie schneller fertig werden, wenn er dabeisteht. Ich lasse ihn in dem Glauben.«
»Ich habe Marienetta bisher noch gar nicht gesehen.«
»Das wundert mich nicht. Sie wollte doch nicht mitkommen und ist zurück auf ihr Zimmer. Aber ich glaube der verlogenen Hexe kein Wort. Wahrscheinlich kommt sie mit dem nächsten Zug hier an.«
Sie nahm ihren Regenhut ab und schüttelte ihn aus, wobei das Wasser auf Paula spritzte. Dann setzte Sophie, deren langer Pferdeschwanz im Kragen des Regenmantels steckte, den Hut auf und ließ sich seufzend wieder nieder.
»Sie und Marienetta scheinen sich ja wirklich nicht besonders gern zu haben«, sagte Paula.
»Nein, überhaupt nicht. Das war noch nie so und wird auch nie der Fall sein.«
Paula hörte, wie ein Zug anfuhr. Er rumpelte eine Weile den Bahnsteig entlang, ehe ein lauter Krach ertönte, der Paula hochschrecken ließ. Es hatte sich angehört, als wäre ein Zug auf einen anderen aufgefahren, aber die Kurve versperrte ihr die Sicht auf den Bahnsteig.
»Was war denn das, um Himmels willen?«, sagte sie.
»Nichts«, antwortete Sophie. »Die stellen auf dem Nebengleis einen neuen Güterzug zusammen.«
»Das hätten sie aber auch mit einem Signal ankündigen können, man erschrickt ja zu Tode.«
»Ach, mit der Zeit gewöhnt man sich daran«, meinte Sophie.
Paula musste ihr Recht geben. Sie lauschte dem leisen Rauschen des Regens, das hin und wieder vom Rumpeln eines rangierenden Güterwaggons unterbrochen wurde. Das ist einer der ödesten und einsamsten Ort der ganzen Welt, dachte sie und konnte sich kaum vorstellen, dass Lugano mit seinen Lichterketten am Monte Brè und der See nur eine halbe Stunde weiter nördlich lagen.
Paulas Blick wanderte nach
Weitere Kostenlose Bücher