Die Klinge
Wagen langsam, aber unaufhaltsam auf sie zukam. Weil ihr Hals sich unmittelbar über einem der Gleise befand, würden sie die Räder unweigerlich enthaupten.
Entsetzt starrte sie auf die rotierenden, von der Nässe glänzenden Metallscheiben und versuchte, sich mit einer letzten, fast übermenschlichen Anstrengung doch noch zurück auf den Bahnsteig zu schieben. Aber sie schaffte es nicht. Noch nie hatte sie sich so hilflos, so gelähmt vor Angst gefühlt wie jetzt, wo das sich unerbittlich drehende Rad immer näher auf sie zurollte.
38
Zwei starke Hände fassten Paula um den Brustkorb, hoben sie an und rissen sie gleichzeitig nach links, um sie vor dem heranrollenden Güterwaggon in Sicherheit zu bringen. Newman war Paula im buchstäblich letzten Augenblick zu Hilfe gekommen - nur einen Wimpernschlag später stießen die Puffer des Waggons mit einem lauten metallischen Geräusch gegen die am letzten Wagen des wartenden Zuges.
Newman hob Paula hoch und trug sie zu der einzigen Bank auf dem Bahnsteig, als eine laute Stimme mit amerikanischem Akzent rief:
»Hilfe! Wir haben einen Notfall! Hilfe!«
Paula sah sich um und erblickte Russell Straub, der nur wenige Meter neben ihnen stand. Er hielt sich die Hände wie einen Schalltrichter vor den Mund und wiederholte seine Hilferufe.
»Seien Sie doch still«, knurrte Newman.
Als sie sich der Bank näherten, öffnete Sophie die Augen und blinzelte, als ob sie gerade erwacht wäre. Neben ihr auf der Bank war eine trockene Stelle, die darauf schließen ließ, dass sie vor kurzem aufgestanden war und sich dann ein Stück daneben wieder hingesetzt hatte. »Machen Sie, dass Sie von der Bank runterkommen«, forderte Newman die junge Frau nicht besonders höflich auf. »Ich brauche sie für Paula. Ein bisschen plötzlich, wenn ich bitten darf.«
Sophie machte ein böses Gesicht, räumte aber sofort die Bank und verzog sich. Newman legte Paula vorsichtig auf
die Bank. Er war aschfahl im Gesicht und schien sich schreckliche Vorwürfe zu machen. Paula versuchte vorsichtig, erst die Beine und dann die Arme zu bewegen. Beides klappte zum Glück ohne Schwierigkeiten.
»Alles in Ordnung?«, fragte Newman mit heiserer Stimme.
»Ich lebe noch«, antwortete Paula leise. Ihre Kehle war völlig ausgetrocknet.
»Du meine Güte, tut mir das Leid«, stieß Newman hervor. »Ich wollte mir doch bloß eine Zigarette anzünden, aber bei dem Wind war das schwierig. Also habe ich mich einen Moment lang umgedreht. Und da waren Sie auch schon ausgerutscht und aufs Gleis gefallen. Ich hätte besser auf Sie aufpassen sollen, verdammt noch mal. Ich habe Tweed versprochen, Sie zu beschützen, aber auf ganzer Linie versagt. Es tut mir unendlich Leid, Paula.«
»Machen Sie sich nicht lächerlich, Bob«, krächzte Paula. »Sie haben mir schließlich das Leben gerettet. Außerdem bin ich nicht ausgerutscht. Jemand hat mich aufs Gleis gestoßen.«
»Wer?« Newmans Gesichtsausdruck war auf einmal voller Hass. Hätte Paula ihm einen Namen nennen können, er hätte die Person auf der Stelle umgebracht.
»Keine Ahnung. Ich habe schrecklichen Durst. Das Sprechen tut mir weh.«
Ein Pulk uniformierter Bahnangestellter und Polizisten, von denen manche weiße Schutzanzüge trugen, kam auf die Bank zugerannt. Einer der Polizisten holte einen Flachmann aus der hinteren Hosentasche und reichte ihn Paula.
»Was ist da drin?«, sagte Newman schroff. »Die Frau braucht Wasser.«
»Das ist Wasser«, entgegnete der Polizist. Er hatte ein freundliches Gesicht und wischte den Rand des Flachmanns mit einem sauberen Taschentuch ab, bevor er ihn Newman gab.
»Da, trinken Sie«, sagte Newman zu Paula, die sich inzwischen aufgesetzt hatte. »Aber langsam, damit Sie sich nicht verschlucken.«
Inzwischen war auf einem anderen Gleis der Schnellzug nach Mailand eingefahren. Tweed war so nahe an die Bahnsteigkante getreten, dass er die Hilferufe Straubs nicht gehört hatte. Ein paar wenige Fahrgäste stiegen aus, darunter auch Marienetta, die ihn sofort entdeckte und lächelnd auf ihn zukam.
»Willkommen im schönen Chiasso«, begrüßte Tweed sie mit einem ironischen Unterton.
»Bin ich froh, dass Sie auch hier sind«, sagte Marienetta und umarmte ihn. »Eigentlich wollte ich ja nicht mit, aber jetzt habe ich es mir doch wieder anders überlegt. Ich muss doch sehen, wie Onkel Roman die Sache über die Bühne kriegt.« Sie ließ Tweed los und sah ihn freundlich an. »Wie viel Giftgas ist denn bisher schon entdeckt
Weitere Kostenlose Bücher