Die Klinge
rechts, wo Newman in zehn Metern Entfernung an einem der hässlichen Eisenträger der Bahnsteigüberdachung lehnte. Er hatte gerade seine Zigarette zu Ende geraucht, die er jetzt an dem Pfeiler ausdrückte und daraufhin in einen Abfalleimer warf. Er reckte den Daumen nach oben und winkte Paula aufmunternd zu.
»Diese dummen Schweizer«, fing Sophie erneut zu schimpfen an. »Glauben die denn wirklich, dass wir es nötig haben, Giftgas in den Nahen Osten zu exportieren? Die Ägypter zahlen allein für den Sauerstoff schon ein Vermögen. Als ich das Geschäft ausgehandelt habe, wollte der Typ doch tatsächlich zu feilschen anfangen, aber ich habe ihm erklärt, dass er entweder unseren Preis akzeptieren oder sich gefälligst irgendwo anders billigere Ware besorgen soll. Dann habe ich den Hörer aufgeknallt. Zehn Minuten später hat er zurückgerufen und meinen Preis bedingungslos akzeptiert. Zusätzlich habe ich mir von diesem Gangster auch noch Vorkasse erbeten.«
Diese Seite von Sophie hatte Paula bisher noch gar nicht kennen gelernt. Sie war offenbar nicht nur eine Expertin
auf ihrem Gebiet, sondern auch noch eine gewiefte Geschäftsfrau. Paula entschloss sich, ihr eine gefährliche Frage zu stellen.
»Wenn Ihr Vater sich aus dem aktiven Geschäft zurückzieht, wer wird dann sein Nachfolger? Sie oder Marienetta?«
»Wenn ich das nur wüsste«, sagte Sophie kühl. »Tatsache ist, dass Marienetta meinem Vater in den Hintern kriecht - was ich übrigens für einen Fehler halte -, während ich einfach meinen Job mache.«
Sophie zog den Handschuh an ihrer rechten Hand aus, um den Kragen des Regenmantels besser hochklappen zu können. Dabei fiel Paula an ihrem Mittelfinger ein Ring mit einem großen Rubin auf, den sie zuvor noch nie dort gesehen hatte. Irgendwie hatte sie plötzlich genug von Sophie. Sie stand auf und bemerkte, dass dort, wo sie auf der Bank gesessen hatte, ein trockener Fleck war.
»Ich gehe ein bisschen spazieren«, sagte sie. »Langes Herumsitzen macht mich nervös.«
»Mir ist auch sterbenslangweilig«, sagte Sophie und gähnte. »Ich glaube, ich halte ein kurzes Nickerchen.«
Obwohl gerade ein heftiger kalter Windstoß um die Bank fegte, lehnte Sophie sich zurück und schloss die Augen. Paula stellte den Mantelkragen hoch und ging langsam den gekrümmten Bahnsteig entlang. Vor ihr sah sie einen Mann, den sie hier nicht erwartet hätte. Russell Straub.
Was hatte der denn in Chiasso zu suchen? Es schien, als müsste er überall sein, wo auch die Arbogasts waren. Aber weshalb? Wo bestand die Verbindung zwischen dem Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten und dieser seltsamen Familie?
Hinter sich hörte Paula das Geräusch der sich nähernden Rangierlok, die einen weiteren Güterwaggon zum Ankoppeln heranschob. Was für eine monotone, anstrengende
Tätigkeit das sein muss, dachte sie. Manche der Bahnarbeiter tun bestimmt ihr Leben lang nichts anderes.
Sie fröstelte. Der kalte Wind drang sogar durch den dicken Mantel. Sie klopfte sich ein paar Mal mit den Händen auf die Oberarme, aber dadurch wurde ihr auch nicht wärmer. Jedenfalls war das Herumspazieren besser, als reglos neben der übel gelaunten Sophie zu sitzen.
Immerhin hatte sie bei dem Gespräch mit Sophie etwas Neues erfahren. Wenn Arbogast sich eines Tages aus dem Geschäft zurückzog, dann würde die Leitung des riesigen Konzerns entweder an Marienetta oder an Sophie übergehen. Für welche würde er sich wohl entscheiden? Paula hatte keine Ahnung. Andererseits konnte sie sich nur schwer vorstellen, dass Arbogast jemals in den Ruhestand zu treten gedachte.
Langsam näherte sie sich dem nun fast fertig zusammengestellten Güterzug. Offensichtlich musste jedes Mal, wenn ein neuer Waggon von der Rangierlok herangeschoben wurde, ein Bahnarbeiter ihn per Hand an den Zug ankoppeln. Vor dem Ende des Zuges blieb Paula stehen und beobachtete, wie der nächste Waggon heranrollte.
Auf einmal spürte sie eine Hand an ihrem Rücken, die ihr einen kräftigen Stoß nach vorn gab. Paula kam ins Straucheln, fiel hin und rutschte mit dem Oberkörper über die Bahnsteigkante nach unten, während ihre Beine noch immer oben auf dem Bahnsteig waren. Mit den Händen, die zum Glück in Handschuhen stecken, versuchte sie sich auf dem scharfkantigen Schotter zwischen den Gleisen wieder nach oben zu drücken, aber der Winkel, den ihr Oberkörper bildete, war zu ungünstig dafür.
Starr vor Schreck blickte sie auf und sah, wie der an den Zug zu koppelnde
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