Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Klinik

Die Klinik

Titel: Die Klinik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
Vom Netzwerk:
schriftliche Arbeiten loszuwerden.
    Sie verstehen nicht, wie das zwischen manchen Schwestern ist.
    Aber ich weiß, wie es zwischen manchen Brüdern ist, dachte er.
    Die Heißluft in den Rohren stöhnte. Unwillkürlich griff seine Hand nach der Taschenuhr, nervös berührten seine Finger die gebosselten Engel auf dem angelaufenen Silberdeckel, bis er die Uhr aufklappte und durch die altmodische Glasscheibe mit den römischen Ziffern in Ereignisse hineinstarrte, an die er sich nie mehr erinnern wollte.
    Der Grundstein der brüderlichen Beziehung war gelegt worden, als Rafael fünf und Guillermo sieben Jahre alt war.
    Leo, das Familienfaktotum – ein großes, watschelndes Menschentier, das Rafe liebte –, versuchte es ihm eines Tages zu erklären, als er Rafael eben dabei erwischt hatte, wie er mit Papierflügeln, die ihm Guillermo an die Schultern gebunden hatte, aus dem Fenster springen wollte.
    »Er wird dein Ruin sein, dieser kleine Hurensohn, möge deine Mutter mir verzeihen«, sagte Leo und spuckte durch das offene Fenster. »Höre nie auf ihn, denk daran, was ich dir sage.«
    Aber es war immer so interessant, Guillermo zuzuhören. Wochen später sagte Guillermo: »Ich hab’ was.«
    »Laß es mich sehen.«
    »Es ist ein Ort.«
    »Nimm mich mit.«
    »Es ist ein Ort für große Jungen. Du pißt noch immer in die Hose.«
    »Nein«, sagte Rafael hitzig und fürchtete, daß er weinen würde, weil er genau in dieser Minute das leise Ziehen in seiner Leistengegend spürte und sich erinnerte, daß er erst vor drei Tagen das Badezimmer nicht rechtzeitig erreicht hatte.
    »Es ist ein wunderbarer Ort. Aber ich glaube nicht, daß du schon groß genug bist, um dich mitnehmen zu können. Wenn du dort in die Hose machst, wird dich die alte Hexe holen. Sie kann sich in jedes Tier verwandeln, in das sie will. Und dann heißt’s Addio.«
    »Du hältst mich zum Narren.«
    »Nein. Aber es ist ein großartiger Ort.«
    Rafael schwieg. »Hast du sie gesehen?« fragte er schließlich.
    Guillermo starrte ihn düster an. »Ich mach’ nie in die Hose.«
    Sie spielten und wanderten nach einer Weile in das Elternzimmer. Guillermo stellte sich auf das Bett, um die oberste Lade der Kommode zu erreichen, und nahm die rote Samtschachtel heraus, in die der Vater allabendlich die Uhr legte und aus der er sie jeden Morgen holte.
    Er öffnete und schloß sie mit einem Knall, öffnete und schloß sie wieder, ein befriedigendes Geräusch.
    »Du wirst bestraft«, sagte Rafael.
    Guillermo gab ein rüdes Geräusch von sich. »Ich darf sie anfassen, weil sie mir gehören wird.« Die Uhr wurde jeweils an den ältesten Sohn weitergegeben, hatte man den Jungen erklärt. Dennoch legte er sie in die Lade zurück und schlenderte in sein Zimmer zurück, Rafael im Schlepptau.
    »Nimm mich mit, Guillermo. Bitte.«
    »Was schenkst du mir dafür?«
    Rafael zuckte die Achseln. Sein Bruder wählte die drei Spielsachen, von denen er wußte, daß sie dem Herzen des kleinen Jungen am nächsten standen, einen roten Soldaten, ein Bilderbuch über einen traurigen Clown, einen Teddybären namens Fabio, bucklig, weil Rafael ihn immer so krampfhaft an sich drückte, wenn er nachts mit ihm schlief.
    »Nicht den Bär.«
    Guillermo warf ihm einen eiskalten Blick zu und willigte dann ein.
    Am selben Nachmittag, als man meinte, daß sie ihr Schläfchen hielten, führte ihn Guillermo durch den Wald mit den verkrüppelten Tannen hinter dem Haus. Sie brauchten zehn Minuten über den alten gewundenen Pfad, um die kleine Lichtung zu erreichen. Die Räucherkammer war ein großer fensterloser Kasten. Die rohen Balken waren von der Sonne gebleicht und vom Regen silbergrau geworden.
    Innen war Nacht.
    »Geh voraus«, drängte Guillermo. »Ich gehe direkt hinter dir.«
    Aber als Rafe eintrat und die Welt des Lichts und Grüns verließ, fiel hinter ihm die Tür zu, und der Riegel wurde mit einem Klicken zugeworfen.
    Rafe plärrte.
    Gleich darauf hörte er auf.
    »Guillermo«, sagte er dann mit einem glucksenden Lachen, »halt mich nicht zum Narren.«
    Ob er die Augen öffnete oder schloß, sie waren erfüllt von Licht. Purpurschatten schwangen an ihm vorbei, auf ihn zu, durch ihn hindurch, Formen, die er nicht erkennen wollte, die Farbe des Bluts von dem großen Schwein, das hier gehangen hatte. Sein Vater hatte ihn ein paarmal zum Schlachten mitgenommen. Er erinnerte sich an die Gerüche und das Blut und das Grunzen, an das wilde Augenrollen.
    »Guillermo«, schrie er keuchend, »du

Weitere Kostenlose Bücher