Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
Vom Netzwerk:
hatte man ihnen gesagt, obwohl einige gar nicht gehen wollten. Weil an der Küste der Frauen so viele Schwangere, Säuglinge und Kleinkinder lebten, ging es nicht gerade friedlich zu, obwohl die Kleinen gut beschäftigt wurden, denn sie spielten und waren im Wasser zu Hause wie junge Seevögel oder Robben. Die kühlen Wellen, die in rascher Folge ans Ufer schlugen, verloren ihren Reiz auch für die Erwachsenen nie.
    Doch der Gegensatz zwischen der Küste der Frauen und dem Tal der Männer war für manche weibliche Wesen zu groß und schwer zu ertragen.
    Allerdings kam es durchaus vor, dass die Männer die Frauen in ihren luftigen Höhlen besuchten, und die Frauen gingen ihrerseits zu den Männern.
    Dann kam es zu jener Auseinandersetzung, die dazu führte, dass die Männer aus ihrem Tal fort in die Wälder zogen.
    Die jungen Männer, die sich ständig schwierige Heldentaten und Herausforderungen ausdachten, erfanden schließlich etwas, das Maronna dazu brachte, »fast wahnsinnig vor Zorn« über den Berg zu Horsa zu eilen. Hier etwa taucht der Name Maronna zum ersten Mal auf, ebenso wie Horsa. Wir wissen nicht, ob Silben wie Mar … Maro … Mer und so weiter eine bestimmte Person oder die jeweilige Anführerin der Frauen bezeichneten.
    Die jungen Männer gingen mit einem im Wald hergestellten Seil, das aus der Unterseite der Baumrinde bestand, zur Kluft; dort band sich dann einer von ihnen das Seil um die Mitte und sprang auf die Plattform, wo ihn die Gase aus der Knochengrube bald überwältigten. Das Spiel bestand nun darin, dass ihn diejenigen, die am Rand standen und hinunterblickten, wieder heraufziehen mussten, bevor er in Ohnmacht fiel. Alle taten das, einer nach dem anderen – wer sich noch nicht an der Kluft versucht hatte, galt nicht als erwachsen.
    Maronna kam allein und erfuhr, dass Horsa gerade zur Jagd in den Wald gegangen war.
    Unsere Chronik besagt, dass Maronna Horsa körperlich angriff und zurückgehalten werden musste. Ihre Chronik sagt, dass sich Horsa offenbar keiner Schuld bewusst war, bis sie ihn anschrie, er denke nie über seine Taten nach und sehe nie die Konsequenzen … jeder wisse schließlich, dass die kleinen Jungen den großen alles nachmachten, dass sie erstens bei dem Versuch, auf die Plattform zu springen, ein Seil aus Seegras benutzen würden, das sie höchstwahrscheinlich gar nicht halten werde, und dass sie außerdem noch Kinder und gar nicht stark genug seien, um die Gase auszuhalten oder zu verhindern, dass sie beim Festhalten des »Seils« in den Abgrund gerissen würden.
    »Willst du eigentlich alle unsere Kinder töten?«, schrie Maronna, und Horsa, der bis zu diesem Moment gar nicht auf die Idee gekommen war, dass die kleinen Jungen natürlich versuchen würden, dem Beispiel der großen zu folgen, schrie zurück, sie habe keinen Grund, ihn anzuschreien und zu brüllen, denn er werde der Sache sofort ein Ende machen.
    Ob Horsa sich entschuldigte, ob er zugab, dass er gedankenlos gewesen war? Denn sie hatte natürlich recht. Ich sehe nirgendwo einen Hinweis darauf, dass Horsa zugab, im Unrecht gewesen zu sein, doch unsere Chronik besagt, dass sich Maronna schließlich »beruhigte« und dass er sich bereit erklärte, die Kluft Tag und Nacht bewachen zu lassen, damit die kleinen Jungen nicht mehr hinaufgehen konnten.
    »Sind wir dir denn gleichgültig?«, fragte Maronna flehentlich und weinte.
    Dies hat die kritische Aufmerksamkeit zahlloser Kommentatoren auf sich gezogen. Was meinte sie mit »wir«? Als eigenes »Volk« verstanden sie sich offenbar schon lange nicht mehr. Meinte sie, dass den männlichen Wesen die Kümmernisse der Frauen gleichgültig waren? Oder die kleinen Jungen? (»Sehr wenige Mädchen ließen sich zu der Mutprobe mit den Gasen verleiten – sie sagten, so etwas sei Frevel und die Kluft sei heilig.« Dergleichen liest man in den Aufzeichnungen über die Spalten nicht oft, also müssen wir davon ausgehen, dass sie religiöse Gründe erfanden, um ihre Kritik an den Jungen vorzubringen.)
    Ob jene Menschen, Frauen wie Männer, die Vorstellung besaßen, dass sie selbst die einzigen lebenden Menschen waren, so wie es das Lied »Wir sind so wenige, wir sterben so rasch …« nahelegt? Es gibt weder bei ihnen noch bei uns irgendwelche Aufzeichnungen, nach denen sie annahmen, dass es irgendwo anders, »auf einer anderen Insel«, weitere Menschen gab, die so waren wie sie oder sich unterschieden. Anscheinend glaubten sie, dass ihr Land eine Insel war, auch

Weitere Kostenlose Bücher