Die Kluft: Roman (German Edition)
Männer behandelten die kleinen Jungen wie ihresgleichen, und die Frauen mussten einsehen, dass sie ebenso zäh und schnell waren wie die Männer selbst. Diese Einsicht führte dazu, dass sich die Frauen weniger Sorgen machten, als die Jungen später unbedingt bei den Männern leben wollten.
Als die älteren weiblichen Wesen ein, zwei Tage später dazukamen, feierten alle ein ausgiebiges, ausgedehntes Fest mit zahlreichen Spielen.
Schließlich kehrten die Frauen an ihre Küste zurück, und die Männer zogen in den Wald.
Wir müssen davon ausgehen, dass Gruppen männlicher Wesen für eine beträchtliche Zeit, für eine Ewigkeit – aber wie lange? – verschiedene Stellen im Wald bewohnten, an denen es geeignete Flüsse oder einladende Lichtungen gab. Die Frauen besuchten sie, wenn ihre Natur ihnen sagte, dass es Zeit dafür war. Und mittlerweile ist klar, dass hier von einer beträchtlichen Bevölkerungszahl die Rede ist: viele weibliche Wesen an ihrer Küste und zahlreiche Männer im Tal. Aber wie viele? Es lässt sich nicht genau berechnen, zumal man weiß, dass bei den Männern immer einige Mädchen wohnten, die nicht wie andere weibliche Wesen zu Besuch kamen, sondern lieber in männlicher Gesellschaft leben wollten. Diese weiblichen Wesen pflanzten sich aus irgendeinem Grund nicht fort oder wollten es nicht, oder sie waren unfruchtbar – jedenfalls bedeutete es, dass sie die Männer nicht mit ihren Neugeborenen zur Last fielen. Es ist bekannt, dass sich manche nach der Geburt des Kindes entledigten. Und wer sind wir Römer, so etwas zu verurteilen, wo wir doch selbst zu einer viel späteren Zeit dasselbe tun, wenn wir ungewollte Kinder an Berghängen ihrem Schicksal überlassen. Eins jedenfalls zeigt sich hier: Jene Menschen hatte keine Angst mehr, zu wenige zu sein. »Wir sind so wenige, wir sterben so rasch.« Das war vorbei. Der »Lärm« gehörte schon lange der Vergangenheit an.
Ist es nun ein glücklicher oder ein unglücklicher Umstand, dass wir, die Völker der Welt, so fruchtbar sind und uns ständig so stark vermehren? Es werden mehr Kinder geboren als nötig. So verfährt die Natur, nicht wahr? Sie stattet alles zu üppig aus, bietet zu viel, immer und überall.
Ich glaube, hier müssen wir uns einer bestimmten Frage stellen, auch wenn sie sich nicht beantworten lässt. Wo befand sich jene Insel, auf der unsere Ahnen in ferner Vorzeit aus dem Meer gekrochen sind – wie wir glauben –, um sich zu unseresgleichen zu entwickeln? Man hat natürlich viele Male festzulegen versucht, auf welcher Insel das geschah und wo sie lag. Wie groß war die Insel? Wie Sizilien? Nein, das war auf jeden Fall zu klein. Vielleicht wie Kreta? Aber wir wissen schließlich, dass Kreta von Erdbeben und Überflutungen heimgesucht worden ist. Irgendjemand hat dieses Bündel uralter Schriften hierher nach Rom gebracht – von einer der griechischen Inseln? Gegen diese Annahme spricht das Klima, denn nirgendwo in den Chroniken werden sengende Sonne und glühende Hitze und die bittere Trockenheit des Sommers erwähnt, die schließlich zur Dürre führt. All das könnte allerdings auch bedeuten, dass jene Menschen nie etwas anderes erlebten als das, was sie ohnehin kannten, und Extreme deshalb nicht für erwähnenswert hielten. Obwohl sie natürlich vom Lärm berichteten, vom großen Sturm. Auf jener Insel war es nicht kalt: Sie trugen nie mehr als Flechtwerk aus Seegras oder die Männerschurze aus Federn und Blättern. Demnach waren sie nackt oder fast nackt. Wir können davon ausgehen, dass sie braune Haut hatten, weil alle Bevölkerungsgruppen, von denen wir wissen, einen braunen oder auch bräunlich gelben Hautton besaßen. Wenn es andere Haar- oder Augenfarben gab, wussten diese Menschen höchstwahrscheinlich nichts davon. Sie selbst hatten vermutlich braune Augen.
Jenes Flüstern aus der Vergangenheit, der unermesslichen Vergangenheit, jene Stimmen, die wiederholen, was andere Stimmen gesagt haben, müssen wir mithilfe dessen interpretieren, was wir aus unserer Erfahrung heraus wissen – dann verschwinden unsere Fragen wie Steine, die man in einen tiefen Brunnen wirft. Uns Römern war schließlich keineswegs immer bekannt, dass es im Norden Bevölkerungsgruppen mit maisblonden Haaren und blauen oder grauen Augen gibt.
Angenommen, das Klima hat sich im Lauf jener langen Zeit verändert, sodass wir gar nicht mehr wissen können, wie es einmal gewesen ist? Milde, wohltemperierte Küstenstriche, an denen für
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