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Die Knoblauchrevolte

Die Knoblauchrevolte

Titel: Die Knoblauchrevolte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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begrenzt. Gao Ma wandte sich nach Norden und hatte in wenigen Sekunden den sandigen Flußdeich erreicht. Er kletterte über ihn hinweg und stolperte ins trockene Flußbett hinunter. Vor ihm tat sich ein Gehölz von roten Weiden auf. Die Bäume waren nicht beschnitten, ihre Zweige bildeten ein dichtes Gewirr, in dem flache Raupen von hellgelber Farbe lebten, die giftig waren. Die Leute im Ort nannten sie Narbenbringer, weil ihre Gifthaare sich bei der kleinsten Berührung in die Haut bohrten und dort Schwellungen und Juckreiz hervorriefen. Gao Ma erkannte die Gefahr erst, als es zu spät war und sein Körper bereits vom Gift unzähliger Raupen brannte. Er rannte immer weiter und spürte nicht einmal, wie ihm das stachlige Gras die Füße zerkratzte.
    Ein paar Wildkaninchen, die er aufschreckte, rannten neben ihm her, aber er hatte sie bald überholt. Vor ihm tauchte eine baufällige kleine Steinbrücke mit hölzernen Stützpfeilern auf. Das Weidengehölz lichtete sich; er war am Rand des Dorfes angelangt. Ein Fahrweg für Pferdekarren führte über die kleine Brücke in die Felder. Um nicht gesehen zu werden, schlich sich Gao Ma im Schutz einer tiefen Grube, die Sanddiebe ins Flußbett gegraben hatten, unter der Brücke hindurch und gelangte in einen Mischwald aus Akazien und Maulbeerbäumen. Es war gerade die Zeit der Akazienblüte, deren Duft erstickend schwer in der Luft lag. Gao Ma lief und lief. Seine Beine wurden immer schwerer, seine Augen immer unsicherer, stechende Schmerzen durchbohrten seinen Körper, der Atem stockte in seiner Kehle.
    Die verwachsenen Stämme der weißen Maulbeer- und braunen Akazienbäume bildeten ein Netz von unregelmäßiger Dichte, durch das er immer schwerer vorwärts kam. Wohin er sich auch wandte, nirgendwo war ein Durchkommen. Er stürzte der Länge nach zu Boden.
2
    Das erste, was Gao Ma empfand, als er gegen Abend wieder zu sich kam, war der quälende Durst in seinem Bauch. Dann spürte er, daß sein ganzer Körper brannte und juckte. Wenn er sich mit den Fingern über die Haut fuhr, verschaffte ihm das Abwischen des Schweißes ein wenig Kühlung. Seine Augen waren so zugeschwollen, daß er kaum etwas sehen konnte, doch erst als er mit den Fingerspitzen über sein Gesicht tastete, fiel ihm wieder ein, daß er bei seiner Flucht in den Schweinestall des Lehrers Zhu mit dem Kopf gegen ein Wespennest gestoßen war und die Wespen ihm das Gesicht zerstochen hatten.
    Das rote Rad der Sonne ging langsam im Westen nieder. Der sanfte, schöne Frühsommerabend entfaltete eine betörende Farbenpracht. Auf den lackschwarzen Maulbeerblättern lag ein Widerschein des Abendrots. Die weißen Akazienblüten hüllten sich in hellgrünen Dunst. Die Abendbrise regte sich. Maulbeerblätter und Akazienblüten bewegten sich in anmutigem Tanz, bei dem sich Blüten und Blätter leise raschelnd berührten.
    Als Gao Ma sich an einem Maulbeerzweig hochzog, spürte er jeden einzelnen Knochen seines Körpers. Er stand auf. Seine Beine waren steif, die Füße geschwollen, und seine Nasenhöhlen drückten, als wollten sie platzen. Das schlimmste war der Durst. Er hatte Mühe, sich klarzumachen, daß alles, was er seit Mittag erlebt hatte, kein böser Traum war. Aber das angetrocknete Schweinefutter, das an seinem Körper klebte, und der glänzende Stahlring an seinem Handgelenk sprachen eine deutliche Sprache: sie bewiesen, daß er ein Verbrecher auf der Flucht war. Und er wußte auch, was er verbrochen hatte. Vor über einem Monat hatte ihn die große Unruhe gepackt. Seither hatte er sich nicht mehr getraut, sein Fenster zu verriegeln. Der quälende Durst und die brennende Haut hinderten ihn, einen klaren Gedanken zu fassen. Er mußte sich durch die Bäume nach Norden schlagen, wo das Flußbett war. Dort hatte der Bauer Gao Qün im Frühjahr mit seinen Söhnen einen Brunnen gebohrt.
    Die harten Fruchtkapseln der am Boden kriechenden Tribuluspflanze stachen ihn in die Füße. Er wich ihnen auf einem Streifen stachligen Strandhafers aus und setzte seine Schritte vorsichtig tastend. Tiefrotes Licht fiel durch die Akazienblüten und Maulbeerblätter auf seinen nackten Körper. Seine Brust und seine Arme waren mit roten Malen übersät. Wahrscheinlich ein Andenken von den Narbenbringer-Raupen auf den roten Weidenblättern.
    Er kam aus dem Wald heraus und hatte das blendendweiße Flußbett vor sich. Die riesengroße rote Sonne – nur noch ein halbes Rad – sank wabernd. Die Wolken am westlichen Himmelsrand sahen

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