Die Knochenfrau
ihnen. Er ging einfach neben seinem Bruder Daniel her und ab und zu schlängelte die lange, lachsfarbene Zunge heraus. Die ganze Zeit überlegte Lukas, wie er Daniel erklären konnte, dass dieses Vieh gefährlich war, dass es besser war, Abstand zu halten. Er musste es seinem Bruder ja sagen, ohne dass der Ameisenbär davon etwas mitbekam. Das war das Allerwichtigste. Der Ameisenbär durfte keinen Verdacht schöpfen.
Ein paarmal stieß Lukas seinen Bruder mit der Schulter an. Er packte ihn sogar am Arm und wollte ihn dazu bringen, schneller zu laufen. Vielleicht konnten sie das Tier ja abhängen. Vielleicht konnte dieses Wesen nicht so schnell laufen. Vielleicht konnten sie es auch überlisten ... einfach ganz plötzlich in einen Seitenweg einbiegen. Oder über eine Hecke steigen und durch einen der Gärten laufen. Aber Daniel begriff es einfach nicht und Lukas wurde wütend. Da sagte er einfach offen heraus, dass der Ameisenbär gefährlich sei und dass es nicht gut sei, dass er mit ihnen lief. Und da, ganz plötzlich, hatten Daniel und der Ameisenbär die Plätze getauscht. Nun war das Vieh in der Mitte.
Verzweifelt versuchte Lukas, um das Tier herumzukommen aber es war zu schnell und zu groß. Er konnte es auch nicht überlisten. Und er sah seinen Bruder nicht mehr. Irgendwo auf der anderen Seite musste Daniel sein, irgendwo hinter diesem großen, behaarten Ding mit der langen Schnauze und den schwarzen Augen. Aber es ging einfach nicht, er kam nicht an dem Tier vorbei. Er rannte gegen es, rannte in sein Fell und spürte seinen knochigen, harten Körper. Immer und immer wieder. Da sah Lukas ein, dass es nicht ging.
Und dann waren sie plötzlich zu Hause, bei den Eltern. Sie saßen zu viert an einem großen, runden Tisch und der Vater sagte immer wieder, dass es gleich etwas zu essen geben werde. Er wiederholte es einfach wieder und wieder. Aber es kam nichts.
Lukas saß neben seinem Bruder und nirgends war der Ameisenbär zu sehen. Er schaute auch nicht zum Fenster herein. Trotzdem wusste Lukas, dass er noch da war, irgendwo in der Nähe des Hauses. Er hatte wieder einmal gegen das Ding verloren. Er hatte es nicht geschafft, Daniel von dem Tier abzubringen. Er hatte ihn nicht davon überzeugen können, dass das Vieh eine Gefahr war, eine tödliche Gefahr. Und jetzt ging es nicht mehr. Es ging einfach nicht mehr. Auf dem Weg zum Haus, da wäre es gegangen.
Später – nach dem Essen – würde Daniel nach draußen gehen und dann würde er wieder auftauchen, der große Ameisenbär. Er würde einfach da sein, ganz plötzlich. Und Lukas wusste nicht, wie er seinen kleinen Bruder beschützen sollte. Er wusste, dass dieser Ameisenbär etwas vorhatte, dass er Daniel irgendwohin locken wollte …
In Panik wachte Lukas auf. Er hörte sein Herz klopfen und brauchte einige Minuten, um sich zu beruhigen. Diese verdammte Scheiße, dieser ganze Mist aus seiner Vergangenheit. Irgendwie hatte er immer geahnt, dass es das nicht war, dass die Sache nicht vorbei war. Vielleicht sollte er seinen Bruder anrufen und mit ihm über die verdammte Angelegenheit reden. Über den Ameisenbären … über das, was damals passiert war. Aber sofort verwarf Lukas den Gedanken. Er hatte in den letzten zehn Jahren mehrmals versucht, mit Daniel zu reden. Sobald das Gespräch auf Rothenbach kam, brach sein Bruder ab ... rigoros, keine Diskussion. Daniel hasste diesen Ort noch viel mehr als Lukas ihn hasste. Er war nach Hamburg geflüchtet, ans andere Ende des Landes. Er hatte das alles aus seinem Leben verbannt: Rothenbach, die Demütigungen, die Sache mit dem aufrecht gehenden Ameisenbären.
Lukas sah sich im Zimmer um und sein Blick fiel auf die Wanduhr. Es war kurz nach halb eins und im Fernsehen lief eine Diskussionsrunde. Alte Männer in Sakkos. Kurz hörte Lukas ihnen zu, es ging um Gentechnik. Dann pulte er die Fernbedienung aus der Sofaritze und machte den Kasten aus. Er streckte sich auf der Couch aus, legte sich die Hände auf den Bauch und dachte an das, was damals gewesen war.
3. Der große Ameisenbär
Es wäre zu viel gesagt ... das wäre unfair. Ab und zu war Lukas versucht, seine Kindheit als hart, grausam ... oder einfach beschissen zu betrachten. Aber eigentlich war sie das nicht. Gut, er war an einem engen, von Missgunst geprägten Ort aufgewachsen. Okay, er war der Sohn eines Vaters, der sich immer nur anpassen wollte, anstatt einmal aufzustehen und auf den Tisch zu hauen. Aber es hätte schlimmer kommen können.
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