Die Knochenfrau
Seltsames. Lukas schaute sich eines seiner WAS IST WAS-Bücher an (das über die Dinosaurier) und Daniel versuchte, ihn davon abzuhalten. Dem Kleinen war langweilig.
„Wenn du nicht mit mir spielst, dann geh ich eben den Ameisenbär suchen.”
Ganz genau erinnerte sich Lukas an die Worte seines Bruders. Ihm stand sogar dieses wütende kleine Gesicht vor Augen. Daniel lief immer rot an, wenn er wütend war. Er verfärbte sich schnell wie ein Chamäleon.
„Dann geh doch zu deinem blöden Ameisenbär”, hatte Lukas geantwortet und der Kleine war weggerannt.
Etwa eine Viertelstunde saß Lukas noch über seinem Buch, dann machte er sich Sorgen um seinen Bruder. Wenn er wütend war, dann machte der Kleine manchmal Blödsinn. Lief einfach weg und setzte sich bei den Nachbarn in den Garten. Oder marschierte die Straße entlang und bestand darauf, dass er sich jetzt eine andere Familie suchen würde. Einmal hatten sie ihn drüben bei den Schneiders in einer leeren Regentonne gefunden. Er kam nicht mehr raus und schrie wie am Spieß. Er hatte Angst vor den Asseln, die zu hunderten um seine Füße herum krabbelten.
Also klappte Lukas sein Buch zu und ging seinen kleinen Bruder suchen. Wo behauptete er, diesen großen Ameisenbären gesehen zu haben? Ach ja, hinter dem Haus … am Waldrand. Also einmal um das Haus herum, zu den Gemüsebeeten. Seine Eltern bauten hier allen möglichen Kram an: Bohnen, Mohrrüben, Kohlrabi … lauter gesunde Sachen, die Lukas nicht mochte. Insgeheim vermutete er, dass die Eltern ihnen dieses Gemüsezeugs nur vorsetzten, weil es nichts kostete, weil es ganz umsonst hinter dem Haus wuchs. Wäre es nach ihm gegangen, dann hätten sie die ganzen Beete platt gemacht und einen Teich angelegt. Peters Familie, die hatten einen Gartenteich … mit Fischen und Seerosen und allem. Aber sie hatten nichts außer den Beeten. Und dann kam der grüne Drahtzaun, dann ein kleiner Erdwall und dann der Wald.
Lukas sah seinen Bruder, er stand am Gartenzaun und starrte in das Blätterdickicht. Und dann sah Lukas noch etwas. Etwas Großes. Größer als ein Mensch. Er konnte nicht erkennen, was es genau war. Er sah es nur im Wald verschwinden, in diesem Meer aus Blättern und Ästen. Das Ding war komplett mit graubraunem Fell bedeckt und es bewegte sich langsam und ein wenig unbeholfen. Tatsächlich wie ein vierbeiniges Tier, das versucht, auf zwei Beinen zu gehen. Aber da war es auch schon verschwunden und nur noch das Rascheln der Blätter war zu hören. Wie erstarrt stand Lukas da. Das alles hatte sich in etwa zehn Meter Entfernung abgespielt, er war ja gerade erst um das Haus herum gekommen. Daniel aber war näher dran, er stand direkt beim Zaun. Und jetzt – Lukas erschrak und setzte sich mit einem Ruck in Bewegung – schob Daniel einen seiner kleinen Füße in das Drahtgeflecht. Er wollte über den Zaun klettern, er wollte aus dem Garten raus, diesem … was war es überhaupt? … hinterher. Als er schon fast drüber war, da bekam Lukas ihn am Hosenbund zu packen und zog ihn vom Zaun runter.
„Hey du Blödmann, lass mich los!”
Aber Lukas ließ nicht los. Er packte seinen kleinen Bruder am Arm und schleppte den schimpfenden Zwerg zurück ins Haus. Er hatte nicht gesehen, was das für ein Ding war, dem Daniel da hinterher wollte. Aber er wusste, dass irgendetwas nicht stimmte. Das war nichts, was hierher gehörte. Noch nie hatte er so etwas gesehen. Hier gab es doch nur Rehe und Hasen. Als er gesehen hatte, wie sein kleiner Bruder über den Zaun klettern wollte, da hatte er eine furchtbare Angst verspürt. Was wäre passiert, wenn er ihn nicht noch rechtzeitig gepackt hätte? Grob drückte er seinen kleinen Bruder auf einen der Küchenstühle.
„AUA! BIST DU BESCHEUERT?”
„Wo zum Teufel wolltest du gerade hin?”
Daniel schaute ihn böse an, antwortete aber.
„Ich wollte schauen, wo er hingeht.”
„Wo wer hingeht?”
„Der große Ameisenbär. Du hast ihn ja selbst gesehen … gib's zu! Es gibt ihn wirklich!”
Lukas setzte sich neben seinen Bruder und atmete tief durch. Wenn er mehr erfahren wollte, dann durfte er den Kleinen jetzt nicht verärgern. Das wusste Lukas … und stellte sich geschickt an. Er bestätigte ihm, dass er den Ameisenbären gesehen hatte, dass Daniel Recht gehabt hatte. Zwar hatte Lukas nur einen haarigen Rücken und einen buschigen Schwanz gesehen, aber okay, dann war es eben ein Ameisenbär. Und so erfuhr Lukas, dass Daniel dieses Ding insgesamt schon dreimal
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