Die Knochenfrau
gesehen hatte. Zuerst an dem Tag, nachdem sie im Zoo gewesen waren … also am Montag. Da allerdings nur aus der Ferne. Es kam kurz aus dem Wald und dann verschwand es sofort wieder. Trotzdem hatte Daniel gleich erkannt, was es war, darauf bestand er. Dieselbe spitze, lange Schnauze wie das Tier im Zoo … unverwechselbar.
Das zweite Mal zeigte sich das Tier am folgenden Tag. Daniel spielte hinten im Garten, hörte plötzlich ein Rascheln und da kam es auf zwei Beinen aus dem Wald und stellte sich an den Gartenzaun. Er habe erst ein bisschen Angst gehabt, so Daniel. Dann sei er aber trotzdem hingegangen und dann, als nur noch ein paar Meter zwischen ihm und dem großen Tier lagen, da rief ihre Mutter nach ihm. Er sollte ins Haus kommen. Sofort verschwand der Ameisenbär im Wald. Drehte einfach um und watschelte davon. Scheinbar hatte ihre Stimme ihn erschreckt.
„Und heute war er schon wieder da und diesmal hast du ihn erschreckt”, sagte Daniel.
Gerne hätte Lukas ihm noch einmal erklärt, dass es in Deutschland keine Ameisenbären gab. Und erst recht nicht im Wald hinter ihrem Haus. Aber gerade eben, vor weniger als einer Viertelstunde, da hatte er es selbst gesehen: Ein großes, graubraun behaartes Etwas. Aufrecht stehend. Vielleicht war es ja ein verkleideter Mann? Ein Jäger, der sich mit einem Fell tarnte … so wie die Indianer, von denen Peter immer erzählte. Aber es hatte eben nicht wie ein Mensch ausgesehen und es lief auch nicht wie ein Mensch. Es lief wie ein Tier, das sich auf zwei Beine gestellt hat.
„Hat es irgendwelche Geräusche gemacht?” fragte Lukas.
„Nein”, antwortete Daniel, „Ameisenbären machen sowieso überhaupt keine Geräusche.”
„Vielleicht war das gar kein richtiger Ameisenbär. Der war doch viel größer als die im Zoo. Und außerdem sind die auf vier Beinen gelaufen.”
Daniel reckte das Kinn, machte sich größer. Für seine sechs Jahre hatte er ab und zu eine ziemlich arrogante Art drauf.
„Das war bestimmt ein Ameisenbär. Ich weiß genau, wie die aussehen. Und er kommt bestimmt auch wieder. Und dann bist du nicht da und kannst ihn auch nicht erschrecken.”
In den nächsten Tagen versuchte Lukas, seinen Bruder nicht aus den Augen zu lassen. Ihr Verhältnis drehte sich um. Wollte früher der Große den Kleinen loswerden, so versuchte nun der Kleine, den Großen abzuschütteln. Lukas hatte seinem Bruder befohlen, nicht mit dem Ameisenbären mitzugehen. Er hatte seinem Bruder gedroht, all sein Spielzeug zu zerstören, wenn er nach hinten in den Garten ginge. Er hatte sogar seiner Mutter und seinem Vater von der Sache erzählt, obwohl er ahnte, dass sie ihm nicht glauben würden. Und so war es dann auch. Sie sagten nur, er habe schon immer eine lebhafte Phantasie gehabt und es gebe keine Ameisenbären in Deutschland.
Es war einfach verrückt. Er hatte dieses große Tier gesehen und niemand glaubte ihm. Und natürlich würde der Zwerg wieder hinter das Haus gehen, in der Hoffnung, den großen Ameisenbären zu sehen, da war sich Lukas absolut sicher. Was sollte er machen? Er wusste ja, dass an der Sache irgendetwas faul war … dass dieses Tier vielleicht sogar gefährlich war. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen kleinen Bruder im Auge zu behalten, ihm auf Schritt und Tritt zu folgen. Und da gerade Ferien waren ging das auch.
Aber dann fing die Schule wieder an und die Überwachung hatte ein Ende. Sowieso hatte Daniel schon länger nicht mehr von dem Ameisenbären angefangen. Vielleicht war er ja weg. Vielleicht würde der Kleine sowieso nicht mehr hinters Haus gehen. Was sollte er auch dort … bei den Gemüsebeeten? Immer noch hatte Lukas das Gefühl, seinen kleinen Bruder beschützen zu müssen … aber Scheiße noch mal, er konnte doch nicht ewig auf ihn aufpassen.
*
Es war etwa eine Woche nach Schulbeginn. Lukas kam gegen halb zwei nach Hause und vor dem Haus stand ein Krankenwagen. Erst dachte er, es sei etwas mit den Schneiders. Die waren schon alt und alte Leute hatten ja immer irgendetwas. Aber der Krankenwagen stand vor ihrem Haus, direkt vor der Eingangstür. Und dann sah er seinen Bruder Daniel. Er lag auf einer Trage mit Rollen unten dran und wurde von einem Sanitäter Richtung Krankenwagen geschoben. Ein anderer Sanitäter lief neben der Trage her und hielt einen Beutel hoch, in dem eine durchsichtige Flüssigkeit schwappte. Ein Schlauch führte hinunter zu seinem Bruder.
Lukas rannte los, er verlor seine Schultasche und
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