Die Knochenfrau
ab und hängte sie sich über die Schulter. Sie hatte Simon von ihrem Fenster aus beobachtet. Sie hatte gesehen, wie er gezögert hatte, wie er dastand. Und dann war der Junge doch in den kleinen Waldweg eingebogen. Was wollte er dort? Der Weg führte doch nirgendwo hin.
Frau Pfeiffer hatte ihre Küchenschürze über einen Stuhl gehängt, sich Jacke und Straßenschuhe angezogen und war dem Kind gefolgt. Sie war langjährige Leserin der Bildzeitung und ließ sich außerdem von Fernsehsendungen mit Namen wie „Brisant” oder „Explosiv” informieren. Daher wusste sie auch, dass Deutschland voller Kinderschänder war und dass diese meist nicht einmal weggesperrt wurden. Sie wurden von irgendwelchen Psychologen für geheilt erklärt, dann entlassen und dann … also zumindest in den allermeisten Fällen … vergingen sie sich gleich wieder an kleinen Kindern. Ginge es nach Frau Pfeiffer, sie hätte die Todesstrafe wieder eingeführt … zumindest für Kinderschänder. Ihren Enkeln sagte sie immer wieder, dass sie nicht mit Fremden sprechen sollten. Und wenn ihre Tochter ihr dann Vorwürfe machte, wenn sie ihr sagte, dass es nicht gut sei, wenn Kinder so viel Angst vor der Welt hätten, dann bewies ihre Tochter damit doch nur, dass sie keine Ahnung von der Welt hatte. Da draußen waren böse Menschen, kranke Menschen, Perverse. Und Kinder sollten auf keinen Fall allein durch den Wald laufen.
Als Frau Pfeiffer die Schultasche fand, da wurde ihr heiß und kalt zugleich. Sie nahm das Ding auf den Rücken und lief weiter. Ihre 63jährigen Knie taten weh und auf dem unebenen Boden musste sie aufpassen nicht zu stolpern. Was war das da vorne? Eine Jacke? Frau Pfeiffer beschleunigte ihre Schritte, hob das Ding auf und tatsächlich, es war die Jacke des Jungen. „Hier stimmt etwas nicht”, sagte sie zu sich selbst. „Hier stimmt etwas überhaupt nicht.” Sie ließ die Jacke fallen und lief so schnell den Waldweg entlang, wie es ihr gesundheitlicher Zustand zuließ. Frau Pfeiffer war nicht mehr die Jüngste und auch nicht die Gesündeste. Diabetes und Wasser in den Beinen. Außerdem Herzrasen und ein eingewachsener Zehennagel, der ihr bei jedem Schritt Schmerzen bereitete.
Der Weg wurde immer enger, Frau Pfeiffer bekam Zweige ins Gesicht und fluchte. Aber dort vorne schien eine kleine Lichtung zu sein, sie sah das Licht. Und dann sah sie den Jungen. Er lag auf dem Bauch … mitten auf der Lichtung. Frau Pfeiffer wurde schneller, kam ins Stolpern und fiel fast hin. Plötzlich taten ihr nicht mehr die Knie sondern die Füße weh. Doch dann war sie bei dem kleinen Jungen und eigentlich wollte sie sich ja niederknien und ihn in den Arm nehmen und nachsehen, was mit ihm los war und ob sie vielleicht helfen konnte. Aber als sie bei ihm ankam, da schrie sie auf und trat einen Schritt zurück. Der Kopf des Jungen war seltsam verdreht, Mund und Augen standen offen. Sein Hals war eine einzige Wunde, ein Gewirr aus Blut, Sehnen und knorpeligen Röhren. „Oh Gott! Oh Gott! Oh Gott!” stammelte Frau Pfeiffer und schlug sich die Hände vors Gesicht. Dann schaute sie doch wieder hin und sah seinen Unterarm. Oder das, was davon übrig war. Der Ärmel des Pullovers war nach oben geschoben und dem Arm fehlte ein Stück Fleisch, man konnte den Knochen sehen. Frau Pfeiffer kam der Gedanke an abgenagte Hähnchenschenkel und fast musste sie sich übergeben. Immer nur murmelte sie „Oh Gott-Oh Gott-Oh Gott”. Da hörte sie auf einmal ein Rascheln, ein lautes Rascheln. Wie von einem großen Tier. Und ihr kam der Gedanke, dass das, was den Jungen so zugerichtete hatte, vielleicht immer noch da war. Frau Pfeiffer drehte sich um und lief weg von dem Jungen. Sie sah sich nicht um, sie rannte so schnell wie seit Jahren nicht mehr. Und die ganze Zeit hatte sie das Gefühl, dass ihr irgendetwas folgte, dass etwas hinter ihr war. Aber nichts passierte, nichts griff nach ihr, nichts sprang sie an. Frau Pfeiffer erreichte die Straße und lief vor einen Traktor. Der Fahrer stieg auf die Bremse und das schwere Gerät kam polternd zum Stehen. Einige Sekunden saß er nur da und schaute Frau Pfeiffer an, die keuchend und zitternd vor ihm auf der Straße stand und scheinbar versuchte, ihm irgendetwas zu sagen. Was sollte das? War die Frau verrückt? Warum hatte sie eine Schultasche auf dem Rücken? Dann stieg der Fahrer ab und ging hin zu der Frau. Sie keuchte und schnaufte und stieß immer wieder die Worte „Polizei” und „Krankenwagen” hervor. War
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