Die Knochenfrau
doch nie was von einer Tochter erzählt. Er las weiter.
… und wir waren die ersten Jahre sehr glücklich hier. Ich möchte dir erzählen, was passiert ist. Anna kam 1962 zur Welt, meine Frau war damals 21 und ich war 26. Ich habe nicht viel Geld verdient, wir lebten aber sparsam und konnten uns so das kleine Haus leisten, in dem du jetzt wahrscheinlich bist.
1967 war unsere Anna fünf Jahre alt. Sie wurde in diesem Jahr umgebracht und die Polizei hat nichts herausbekommen. Sie war bei uns im Garten hinter dem Haus und dann ist sie irgendwie über den Zaun geklettert und in den Wald gegangen. Wilma war zuhause, aber als sie etwas gemerkt hat, da war Anna schon nicht mehr auffindbar.
Es gab damals eine große Suchaktion und am darauffolgenden Tag hat man Anna mit den Hunden gefunden. Sie lag im Wald, etwa einen Kilometer von hier, in einem kleinen Hohlraum unter einem umgestürzten Baum. Ihre Leiche war ein furchtbarer Anblick, so hat man uns berichtet. Die Polizei sagte uns, dass sie von einem Tier angefallen worden war. Es hatte ihr in die Kehle gebissen und sie auf diese Weise erstickt. Das ist wohl die Art, wie Raubtiere ihre Beute töten. Und dann hatte es einen Teil ihres rechten Beins gefressen. Aber eigentlich gab es ja schon damals keine Tiere hier in dieser Gegend, die zu so etwas fähig waren. Schon damals gab es hier keine Wölfe mehr und auch keine Luchse oder Bären. Der Polizist sagte uns, dass es wahrscheinlich ein verwilderter Hund war. Allerdings wurde nie ein Hund gefunden. Und ein anderer Polizist hat gegenüber uns zugegeben, dass man überhaupt nicht wusste, wer oder was das getan hat. Scheinbar waren die Bissspuren sehr ungewöhnlich. Sie passten weder zu einem Tier noch zu einem Menschen. Die Ermittlungen wurden nach einigen Monaten ohne Ergebnis eingestellt. Sie wussten wohl einfach nicht mehr weiter. Das war damals sehr schlimm für uns. Wilma hat tagelang geweint und musste Medikamente nehmen. Leider blieb Anna unser einziges Kind.
Aber etwas anderes ist noch wichtig. Anna wollte immer eine Katze haben. Sie schnitt auch immer Bilder von Katzen aus Zeitschriften aus. Wir haben ihr damals keine Katze gekauft und vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn wir das getan hätten.
Einige Tage bevor sie in den Wald ging, erzählte Anna, dass sie draußen mit zwei kleinen Katzen gespielt habe. Die Katzen seien aus dem Wald gekommen und unter dem Zaun durch geschlüpft. Und dann, so hatte das Anna gesagt, waren sie wieder im Wald verschwunden und eigentlich wollte sie ja hinterher. Aber weil es Zeit fürs Essen war, ging sie dann doch ins Haus. Sie erzählte mehrmals von den Katzen und sie wurde richtig wütend, als Wilma ihr nicht glauben wollte. Das ist mir im Gedächtnis geblieben und ich denke oft daran, wie sie damals so wütend war. Sie hat es wirklich ernst gemeint und mittlerweile weiß ich, dass da wirklich Katzen waren. Jedenfalls hat Anna wirklich die Katzen gesehen und an dem Tag, an dem sie ermordet wurde, da ist sie den Katzen nachgegangen. Es war ja genau so wie bei deinem Bruder. Der hat ja auch ein Tier gesehen, das ihn interessiert hat. Und dann ist er diesem Tier nachgegangen und im Wald ist ihm etwas passiert. Aber dein Bruder konnte ja zum Glück entkommen.
Nach dem Tod von Anna sind wir mit einem Mann in Kontakt gekommen. Der war damals schon über Achtzig. Das war ein ehemaliger Bauer, der auf seine alten Tage angefangen hat, sich mit der Geschichte der Region zu beschäftigen. Sein Name war Gustav Erb, er ist 1973 gestorben. Und weil uns sonst niemand helfen wollte und sich auch niemand mehr für das interessiert hat, was Anna passiert ist, haben wir diesem Mann alles erzählt, was wir wussten. Er hat sich besonders für die Kätzchen interessiert, die Anna gesehen hatte. Und er hat uns ein Buch gezeigt, das ein Heimatforscher Anfang des 20. Jahrhunderts, noch vor dem ersten Weltkrieg, geschrieben hat. In diesem Buch sind auch die verschiedenen Sagengestalten aufgeführt, die für manche Gegenden typisch sind. Und in Rothenbach und den umliegenden Dörfern gibt es schon sehr lange die Sage von einem Wesen, das „Die dürre Frau“ oder auch „Die Knochenfrau“ genannt wurde. Dieses Wesen wird als sehr hässliche, dünne Frau beschrieben, die im Wald lebt. Und diese Frau lockt kleine Kinder in den Wald, um sie dann zu töten. Sie lockt die Kinder, indem sie ihnen Dinge vorgaukelt, die sie haben wollen. In diesem alten Buch war von Kuchen und Brot die Rede. Und
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