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Die Knochenfrau

Die Knochenfrau

Titel: Die Knochenfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Susami
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sie überfallen worden?
    „Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal. Man versteht ja nichts”, sagte der Mann.
    Frau Pfeiffer kam nur langsam zu Atem. Sie stand gebeugt da, die Hände auf die Oberschenkel gestützt. Vor ihr das Klopfen des großen Dieselmotors, neben ihr der Mann in der blauen Latzhose. Und nur ein paar Meter weiter der Wald, aus dem sie gerade geflohen war. Sie ließ ihn nicht aus dem Blick, den verdammten Waldrand. Sie hatte Angst, dass es gleich heraus kommen würde … das Ungeheuer, das den Jungen so zugerichtet hatte und das – da war sie sich ganz sicher – noch dagewesen war, als sie den Jungen gefunden hatte.
    Nach einem tiefen Atemzug sagte Frau Pfeiffer:
    „Rufen Sie die Polizei, da ist ein totes Kind im Wald.”
     

6. Und dann das Weinen eines Kindes
     
    Das Sirenengeheul hatte aufgehört. Lukas saß auf dem Klo und beobachtete eine kleine, graugrüne Spinne, die es immer wieder versuchte. Sie kam einfach nicht heraus aus der Badewanne. Immer wenn sie die steile, glatte Wand bis zur Hälfte geschafft hatte, rutschte sie mit sich verheddernden Beinchen zurück auf den Boden.
    Lukas riss ein Stück Toilettenpapier ab und beugte sich weit nach vorne. Eigentlich mochte er keine Spinnen, fand sie ab einer gewissen Größe sogar ekelhaft. Aber die aussichtslosen Versuche des Tierchens weckten sein Mitleid. Nach einigem Hin und Her klammerte sich das kleine Wesen tatsächlich an das Papier und ließ sich in die Freiheit tragen. Lukas legte das mit gelben Blüten bedruckte Stück Toilettenpapier auf den gefliesten Boden und wartete, dass die Spinne sich davon machte. Sie verschwand unter der kleinen Waschbeckenkommode und Lukas wünschte ihr alles Gute.
    Als es nichts mehr zu sehen gab, da wischte Lukas sich den Hintern ab und zog sich die Hose hoch. Er spülte, wusch sich die Hände und sah in den Spiegel. Einige Sekunden lang begutachtete er die Falten, die sich in den letzten Jahren in seine Stirn gegraben hatten. Ihm fiel das Wort „altersgemäß” ein. Dann warf er sich kaltes Wasser ins Gesicht und überlegte, was zu tun war. Erst einmal die Schublade öffnen, in der die Aufzeichnungen waren. Und dann eine Kleinigkeit essen. Er trocknete sich ab, verließ das Badezimmer und ging hinunter zu der kleinen Kommode im Flur. Er bewegte sich langsam und vorsichtig. Als Kind war er oft durch das Haus getobt, war zusammen mit seinem Bruder die steile Treppe hoch und runter gerannt, hatte einmal sogar eine große Blumenvase herunter geworfen … und erfolglos versucht, die Schuld Daniel zuzuschieben. Aber jetzt fühlte er sich fremd in dieser Umgebung. Vielleicht weil im Wohnzimmer der Herr Schneider gestorben ist , dachte Lukas. Er konnte sich nicht vorstellen, in diesem Haus laut zu lachen … oder sich gar einen runterzuholen. Er kam sich vor wie auf einem Friedhof, da war man auch still und anständig.
    Nach einigen Versuchen schaffte Lukas es, den kleinen, nach Oxidation riechenden Schlüssel im Schloss zu drehen, dann ruckelte er die flache Schublade heraus. Darin lagen ein weißer Briefumschlag und eine zerknitterte Plastikmappe mit einigen A4-Blättern. Lukas öffnete den Briefumschlag und zog rund 700 Euro heraus … abgegriffene Zehner, Zwanziger und Fünfziger. Er überlegte, ob er das Geld einstecken sollte … aber es kam ihm falsch vor. Er steckte die Scheine zurück in den Umschlag und legte diesen oben auf die Kommode. Er nahm die Plastikmappe, ging damit in die Küche und setzte sich an den schmalen, mit einer geblümten Plastiktischdecke bedeckten Esstisch. Über ihm tickte eine orangefarbene Uhr aus Plastik. Diese Uhr hatten sie damals schon, er erinnerte sich genau. Einmal hatte Herr Schneider ihn hochgehoben und Lukas hatte die Uhr von der Wand genommen – die Batterien mussten getauscht werden. Sie hatten wirklich nichts verändert, die Schneiders.
    Lukas schlug die Mappe auf, darin waren nur drei Blätter. Lukas erkannte die zittrige Handschrift Franz Schneiders. Wann hatte er zuletzt mehrere Seiten Handschrift gelesen? Er konnte sich nicht erinnern, das musste Jahre her sein.
     
     
    Lieber Lukas
     
    Wenn du das liest, dann bin ich wahrscheinlich tot oder sehr krank. Ich will ja in diesem Haus bleiben, so lange ich kann. Aber ich bin schon ein alter Mann.
    Wir sind 1960 nach Rothenbach gekommen, ich und meine Frau. Hier kam auch unsere kleine Anna zur Welt...
     
    Lukas schaute von dem Blatt Papier auf . Ich dachte immer, die Schneiders hätten keine Kinder. Die haben

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