Die Knochenfrau
darüber, dass die örtliche Feuerwehr irgendwo irgendwas bei irgendeinem Wettbewerb gewonnen hatte. So weit Lukas verstand, ging es darum, irgendwelche Schläuche in möglichst kurzer Zeit ab- und wieder aufzurollen.
Lukas faltete die Seite um, drückte den Knick platt und las den Artikel über den Tod des Jungen. Leider bot der Dreispalter wenig Neues. Der Junge war auf dem Nachhauseweg von der Schule, als es passierte. Man wusste nicht, warum er in den Wald ging, man hatte keinen Täter und überhaupt wollte sich die Polizei mit Verweis auf die laufenden Ermittlungen nicht zu dem Verbrechen äußern. Das Foto zum Artikel zeigte lediglich ein paar Polizisten – Nadine war nicht darunter – und einige Meter Absperrband vor Waldkulisse. Die Lagen des Vierfarbdrucks waren ein bisschen verrutscht und das gab dem Bild etwas psychedelisches.
„Ist schlimm … Kind tot”, sagte einer der beiden Männer, die in dem Dönerladen arbeiteten. Er war hinter der Theke vorgekommen und stand nun schräg hinter Lukas.
„Ja”, sagte Lukas.
„Ist schlimm”, wiederholte der Mann mit der grünen Schürze und schüttelte den Kopf. Und dann:„Alle Leute jetzt verrückt.”
Lukas wusste nur ungefähr, was der Mann meinte, sagte aber trotzdem ja. Er legte die Zeitung weg, trank seine Pepsi aus und gab 1,20 Euro Trinkgeld. Er verließ den Dönerladen und setzte sich in seinen Wagen, dessen Reifen, entgegen seinen Erwartungen, immer noch heil waren.
Als er sich eine Zigarette angezündet hatte, zog Lukas sein Handy aus der Tasche und überlegte, wie er es am besten anstellen sollte. Wenn er seinen Bruder direkt auf das Kindheitserlebnis ansprach, dann legte dieser wahrscheinlich sofort auf. Fingerspitzengefühl war gefragt. Er musste einen anderen Anlass für den Anruf vortäuschen und dann irgendwie zu dem überleiten, was damals passiert war. Lukas räusperte sich und wählte die Nummer seines Bruders.
„Hallo Daniel, ich bin's, Lukas. Stör ich gerade? Musst du arbeiten?”
„Hallo Lukas. Du störst nicht, heute ist Samstag.”
„Ach so … okay, wie geht's wie steht's?”
„Alles okay so weit. Die Kleine hat 'ne Erkältung aber sonst alles Roger in Kambodscha.”
Nach zehn Minuten Smalltalk wechselte Lukas das Thema. Jetzt wurde es ernst, jetzt war Konzentration gefragt.
„Hör mal, warum ich eigentlich anrufe … du kennst doch noch die Schneiders, neben denen wir früher gewohnt haben.”
„Ähm … ja, kenn ich noch.”
Daniels Stimme verriet Misstrauen.
„Der Herr Schneider ist leider gestorben und ich dachte, ich sag dir Bescheid. Wir waren ja früher oft bei denen drüben.”
„Ja und? … Soll ich jetzt zur Beerdigung kommen oder was?”
Lukas merkte, dass er vorsichtig sein musste.
„Nein, die war glaub ich schon, ich war auch nicht da. Ich hab nur die Frau Schneider im Krankenhaus besucht und-”
Daniel machte ein pfeifendes Geräusch.
„-Und ich bin jetzt gerade in Rothenbach, ich hab der Frau Schneider versprochen, dass ich nach ihrem Haus sehe.”
Lukas wartete auf eine Antwort, nach fünf Sekunden kam sie.
„Die Angelegenheiten der Schneiders gehen uns überhaupt nichts an. An deiner Stelle würde ich direkt wieder nach Freiburg fahren und mich um meine eigenen Probleme kümmern. Damit hast du sicher genug zu tun.”
Lukas merkte, wie Angriffslust in ihm aufstieg. Welche verdammten Probleme denn? Er atmete durch und sagte:
„Okay Daniel, ich red' nicht mehr um den heißen Brei herum. Ich werde dich jetzt um etwas bitten, und wenn du auflegst, dann spreche ich nie mehr mit dir. Es ist wirklich verdammt wichtig, dass du mich jetzt unterstützt.”
Daniel sagte nichts, war aber noch in der Leitung. Lukas hörte ihn atmen und im Hintergrund war Kindergeschrei.
„Also … ich MUSS jetzt wissen, was genau damals passiert ist, was du genau gesehen hast, als du im Wald hinter unserem Haus angegriffen wurdest. Hier ist vor einigen Tagen ein Kind umgebracht worden und es lief anscheinend exakt so wie damals bei dir … nur dass das Kind tot ist und du damals abhauen konntest. Leg jetzt bitte nicht auf.”
„Lass mich in Ruhe mit diesen alten Geschichten”, sagte Daniel. Er klang eher resigniert als wütend.
„Bitte Daniel, ich werde dich dein ganzes Leben lang damit in Ruhe lassen, wenn du mir jetzt antwortest.”
„Du solltest nach Freiburg zurückfahren und dein Leben auf die Reihe bekommen. Unsere Eltern machen sich Sorgen um dich.”
„Ich werde nach Freiburg zurückfahren
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