Die Knochenkammer
konnte ich Clem wohl kaum gleich beim ersten Mal mit der Nachricht überfallen, dass Katrina umgebracht worden war.
Stattdessen stellte ich mich als Bekannte von Katrina vor, sagte, dass ich nicht wusste, wann sie zuletzt voneinander gehört hätten, und erkundigte mich nach einer Telefonnummer, unter der ich ihn erreichen könnte. Ich setzte meinen Namen darunter, ohne meine berufliche Position anzugeben, und versandte die Nachricht nach Übersee. Ich schickte ähnliche Emails an die anderen Korrespondenten, bevor ich den Computer ausschaltete und zu Bett ging.
Als ich am nächsten Morgen um sieben Uhr aufwachte, war Val schon draußen vor dem Haus. Sie saß auf dem Rasen neben dem Wildblumenbeet und machte Skizzen des Blutweiderichs und der Mohnblumen, die der starken Morgenbrise vor dem Hintergrund des Menemsha-Teichs trotzten.
»Ich fahre zu Primo’s, um uns Kaffee, Blaubeermuffins und die New York Times zu holen. Irgendwelche Sonderwünsche?«
»Soll ich mitkommen, oder soll ich auf Nina warten?«
»Keine Mutter eines Vierjährigen lässt sich die Gelegenheit entgehen, an einem Samstagmorgen auszuschlafen. Wir werden sie die nächsten Stunden nicht zu Gesicht bekommen. Bleib hier. Ich bin in einer Viertelstunde wieder da.«
Ich fuhr die kurze Strecke zur Beetlebung Corner, wo der Chilmark Store die Insulaner mit allen notwendigen Vorräten versorgte. Als ich Justin Feldman mit seinem Kaffee und Bagel in einem Schaukelstuhl auf der Veranda des Gemischtwarenladens sitzen sah, wusste ich, dass ich zu Hause war.
»Wer sorgt für die Sicherheit in der großen Stadt, während du hier bist, Alex?«
»Hast du’s noch nicht gehört? Die Verbrechenszahlen sinken.« Er war der beste Anwalt der Stadt, der häufig von Unternehmensvorständen für komplizierte Prozesse aufgesucht wurde. »Ich bin mit ein paar Freundinnen hier. Willst du heute Abend vor dem Essen auf einen Cocktail vorbeikommen?«
Er tippte mit der Hand auf die Schlagzeile des Lokalteils der New York Times. »Ich fliege heute Vormittag zurück. Ich habe mitten in der Nacht einen Anruf erhalten.« Er deutete auf das fett Gedruckte, und ich beugte mich über seine Schulter, um es zu lesen. »Ein bizarrer Unfall, aber das Metropolitan ist unser Mandant, also muss ich mich darum kümmern.«
Ich richtete mich mit der Zeitung in der Hand auf: ARBEITER STIRBT DURCH STURZ VON MUSEUMSDACH.
Ich las die Story im Jeep noch einmal.
Ein achtundzwanzig Jahre alter Wartungsmonteur, Pablo Bermudez, war während einer routinemäßigen Inspektion der Wassertanks des Kühlsystems vom Dach des Museums gestürzt. Mr. Bermudez hatte seit zwei Jahren jeden Freitag diese Inspektionen vorgenommen, bisher ohne außergewöhnliche Vorkommnisse. Der Reporter nannte den Tod des Mannes »mysteriös« und zitierte Kollegen, die ihn noch eine halbe Stunde vor dem Unfall gesehen, dann aber aus den Augen verloren hatten, als er nach draußen geklettert war, um die Überprüfung zu beenden. Warum, fragte ein Sprecher des Museums, hatte er dieses Mal das Gleichgewicht verloren?
Unter dem Artikel war eine Zeichnung eines Architekten von der betreffenden Stelle. Dieser Teil des Dachs war flach und von einer kniehohen, dreißig Zentimeter breiten Brüstung eingefasst. Ein Museumswärter, der sich an der Suche nach Bermudez beteiligte, sah seine Leiche dreißig Meter weiter unten am Fuß eines Lüftungsschachts liegen, in dem kleinen Innenhof zwischen den chinesischen Ausstellungsräumen und dem Flügel, in dem der Tempel von Dendur untergebracht war.
Ich raste mit den beiden Kaffeebechern für Val und mich nach Hause. »Ich muss Mike anrufen. Soll ich dir das Telefon bringen, wenn ich fertig bin, damit du hallo sagen kannst?«
Val war gerade dabei, die zweihundert Jahre alte Steinmauer, die mein Grundstück in klassischer Vineyard-Manier umschloss, zu schattieren und sah nicht von ihrem Skizzenblock auf. »Ich habe heute schon mit ihm telefoniert. Er war bereits dienstlich unterwegs. Ich werde ihn erst wieder heute Abend stören.«
Ich ging ins Haus und wählte Mikes Handynummer. »Ja?«
»Du hörst dich an, als seist du gerade beschäftigt. Ich habe den Artikel in der Zeitung gesehen und wollte -«
»Der Springer? Der glücklich verheiratete Wartungsmonteur, Vater von drei Kindern, von dem mir das Museum weismachen will, dass er sich zu Tode gestürzt hat, weil das Wasser nicht so lauwarm war, wie es hätte sein sollen? Oder dass er plötzlich eine Hirnerkrankung bekam,
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