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Die Knochentänzerin

Die Knochentänzerin

Titel: Die Knochentänzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz-Josef Körner
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greifen konnte. So stand ich in der Finsternis, schwärzer als der Tod, mit dem Rücken an einer feuchten Wand. Und die Tränen rannen über mein Gesicht.
    Eins sah ich sofort, als er dann, bevor uns die Dunkelheit wieder verschlang, dalag. Sie hatten ihn gefoltert. Noch bevor der letzte Lichtschein wieder erloschen war, eilte ich zu ihm. Hilflos und stöhnend lag er da in seinem Blut. Ich hockte mich hin und bettete seinen Kopf in meinen Schoß. Die Finsternis war wie ein schwarzes Leichentuch. Doch ich konnte ihn spüren. Meine Finger strichen durch sein blutverklebtes Haar und glitten über sein zerschlagenes Gesicht. Trotz alledem hatte ich die Vorstellung, dass er lächelte.
    »Cailun«, mahlte er schwer die Worte, »ich weiß jetzt, was zu tun ist. Alles wird gut.«
    Nichts wird gut. Mit blankem Entsetzen dachte ich an das, was der Doge gerade mit ihm gemacht hatte.
Hat
machen
lassen,
gewiss, das war ein Mann, der seine weißen Handschuhe sauber hielt.
    »Cailun«, brachte mein Vater erneut hervor.
    Das Wasser tropfte von den Wänden, und ich hielt seinen Kopf.
    »Deine Mutter war ein Engel«, lallte er wie ein Betrunkener. »Ich hatte stets Angst, ihre Flügel zu stutzen. Aber weißt du, wovor ich am meisten Angst hatte?«
    Ich hielt weiter seinen Kopf und schwieg. Er gab sich die Antwort, die ich wegen seiner geschwollenen Lippen nur schwer verstand, selbst: »Am meisten hatte ich Angst davor, ihre Seele anzustecken und mit in die Sünde und die Verdammnis zu ziehen, so dass auch sie keine Erlösung finden würde.«
    »Dadurch, dass sie gewusst hätte, was Euer Handwerk war?«
    »Deine Mutter wollte teilhaben an meinem Leben. Mit aller Macht. Ich hatte Angst davor, dass sie dann auch ein solches Leben führen würde.«
    »Sprecht Ihr die Wahrheit?«
    Ich hätte schwören können, dass er nickte, aber er antwortete nicht.
    »Habt Ihr sie deshalb alleinegelassen, all die Zeit?«, hakte ich nach.
    Beharrlich schwieg er.
    »Wie hat sie Euch bloß lieben können?«, hörte ich mich flüstern. Meine Worte klangen wie das Wasser, das von den Kerkermauern rann.

55
    Sag die Wahrheit
    D ie Zeit hatte in der absoluten Finsternis ihr Maß verloren. Irgendwann holten sie Vater wieder mit dem Seil nach oben. Doch aus einer Laune, die mir ein Rätsel blieb, ließen sie die Falltür offen. Das Licht fiel auf mein feuchtkaltes, schimmelndes Rattengehege. Die Wände – viel zu hoch! Ein Deckel auf dieser Gruft war gar nicht nötig. Nie könnte einem ohne Leiter oder Seil die Flucht gelingen. Ich füllte meine Lungen mit Luft und schrie so laut ich konnte: »W I L L I A M ! V A T E R !«
    Es kam keine Antwort, doch wie zum Hohn sprang mein Schrei von einer Wand zur anderen und kehrte dann zu mir zurück. Ich kauerte auf dem einzigen Fleck im Kerker, wo das Wasser nicht knöcheltief stand. Ich hatte Hunger und Durst und fror gotterbärmlich. Noch einmal rief ich nach William. Wieder keine Antwort. Eine schreckliche Angst quälte mich. War er noch am Leben? Folterten sie ihn? Ich flüsterte: »O Gott, warum nur muss alles so enden?« Dann schob ich mich an der feuchten Wand nach oben. Wütend stampfte ich mit dem Fuß, dass das modrige Wasser spritzte. »Verdammt, Cailun! Tu etwas! Gib nicht einfach auf!« Wie damals auf Icolmkill in der Kapelle schlug ich mit den Fäusten auf das Nächstbeste ein, bis warmes Blut meine Knöchel hinunterrann. Zitternd hielt ich inne. Was hätte ich für einen Heiligen gegeben, auf dessen Gebeinen ich tanzen könnte, bis die Knochen brachen.
    Dann plötzlich wieder Schritte. Mein Herz hämmerte gegen die Rippen. Jetzt kamen sie, um mich zu holen.

    Mit großen Augen sah ich mich um. Alles hatte ich erwartet, nur das nicht. Zehn Männer saßen entlang der Wände auf vergoldeten Stühlen und trugen pelzgefütterte scharlachrote Togen. Ihnen gegenüber thronten weitere sechs. Am Ende des Raums stand ein leerer thronartiger Sessel mit goldenen Löwenköpfen auf den Armlehnen.
    Aus allen Ecken schimmerte der Überfluss: Silberpaneele, glitzernde Glasleuchter, Intarsientische, vollgestellt mit Glaskaraffen und goldenem Geschirr. Es war heller Tag. Draußen streute die Sonne Gold auf die Lagune.
    Nirgendwo sah ich den Dogen. Bestimmt war der leere Thron sein Stuhl, und gleich würde er Platz nehmen und das Urteil über mich sprechen. Doch ein Mann am Ende der Reihe, mit wallendem weißem Haar und Bart und Augen wie schwarze Oliven, ergriff als Erster das Wort.
    »Dies ist eine Befragung, deren

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