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Die Knochentänzerin

Die Knochentänzerin

Titel: Die Knochentänzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz-Josef Körner
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zu ersticken wie an meinem ohnmächtigen Zorn.
    Er redete immer weiter: »Cailun, sprich nicht so, du bist mein Blut! Und was diesen Mann betrifft, den Dogen – ich musste ihn töten. Glaubst du etwa, ich habe es aus Mordlust getan? Venedig wollte sich unter seiner Führung mit Frankreich verbünden! Verstehst du, was das heißt? Unser Land wäre vernichtend geschlagen worden. Tausende Engländer hätten sterben müssen. Tausend andere hätten Freiheit und Besitz verloren. Ist es da nicht besser, ein Leben zu opfern?«
    »Und so geht der Krieg immer weiter, jeden Tag, und noch mehr Menschen sterben.« Ich schleuderte ihm die Worte entgegen, doch es war, als prallten sie an den Wänden ab und kämen zurück.
    »Nein. So wird England siegen, und kein Engländer muss mehr sterben.«
    Warum konnte ich die Tränen und den Zorn nicht aufhalten? Wenn es so war, wie ich behauptet hatte – dass er für mich ein Fremder war und mir nichts bedeutete –, warum war ich dann so außer mir und rief mit tränenerstickter Stimme: »Warum konntet Ihr kein normaler Mann sein? Ihr hättet meine Mutter glücklich gemacht, vielleicht könnte sie sogar noch leben! Ich hätte einen Vater und eine Mutter und wäre nicht aus einem Kloster vor Nonnengesängen davongelaufen! Warum wolltet Ihr lieber Menschen töten?«
    Er hatte eine tiefe, ruhige Stimme, durchwirkt von Tönen, die traurig klangen und müde, wie von einem Menschen, der bereit ist, aufzugeben. »Cailun, ich wollte
nicht lieber
Menschen töten. Glaub mir, nach nichts habe ich mich mehr gesehnt als nach genau einem solchen Leben, wie du es beschrieben hast: ein Haus, eine einfache Arbeit, deine Mutter und du.«
    »Warum habt Ihr dann den anderen Weg gewählt?«
    »Ich hatte keine Wahl.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    Der Unterton von Müdigkeit wurde deutlicher. »Cailun, es ist ganz einfach: Man tut Dinge, die dann andere Dinge nach sich ziehen und diese immer wieder andere. Am Ende ist man selbst ein anderer, als man sein wollte.«
    »Jetzt redet Ihr wirr, damit die Schuld nicht auf Euch fällt!«, schleuderte ich ihm in der undurchdringlichen Dunkelheit entgegen.
    Die Ruhe in seiner Stimme blieb: »Cailun, ich weiß genau, welche Schuld ich auf mich geladen habe. Bald werde ich mich vor dem Herrn dafür verantworten müssen. Aber es ist so geschehen, und selbst wenn ich es wollte, wäre nichts mehr zu ändern.«
    Ich schwieg. Für die Männer erklärte sich der Lauf der Welt so einfach.
Es ist nichts mehr zu ändern.
Nach Ansicht der Dogen lag alle Weisheit des Lebens in einem Muränenbecken und dem einfachen Gesetz, die Starken fressen die Schwachen. Mein Vater hingegen schob alles Unheil auf das Schicksal und die Pflichten eines Ritters seinem König gegenüber.
Man tut Dinge, die andere Dinge nach sich ziehen …
Kann man nicht trotzdem entscheiden, welche
Dinge
man tut, und vorher absehen, was dies nach sich zieht? Können nicht auch einmal die Schwachen siegen? Ist es nicht möglich, ein Leben so zu führen, dass niemand zu Schaden kommt, die eigene Seele eingeschlossen?
    Meine Gedanken wurden unterbrochen, als mein Vater in versöhnlichem Ton fortfuhr: »Cailun, komm wenigstens zu mir herüber, wo es trocken ist und du nicht im Wasser stehen musst.«
    Beinahe hätte ich gelacht, als mir in den Sinn kam, was Schwester Abigail auf Icolmkill wohl hinzugefügt hätte:
Du wirst dir sonst den Tod holen …
    »Ich werde bleiben, wo ich bin«, erwiderte ich störrisch.
    In diesem Augenblick hallten über unseren Köpfen Schritte. Ich hörte Stimmen. Ein Riegel wurde kreischend zurückgeschoben, schwaches Licht fiel auf uns herab. Vielleicht hätte ich mehr Einzelheiten in unserem Gefängnis erkennen können. Doch ich sah nur eins, bevor das für meinen Vater bestimmte Seil herabschwebte: die verzweifelte Glut seiner dunklen Augen in seinem tränennassen Gesicht.

    Ich kann unmöglich sagen, wie viel Zeit verging, bis sich die Falltür wieder öffnete und er gleichsam zu mir herabschwebte. Ich weiß auch nicht, was ich während all dieser Zeit in der Finsternis dachte. Ich war zu aufgewühlt und immer wieder kamen die Tränen. So sehr hatte ich mich nach meinem Vater gesehnt. Doch wie sah die Wahrheit aus? Endlich hatte ich ihn gefunden. In einem finsteren Verlies. Nie hatte er sich um mich gekümmert – stattdessen wie vielen Menschen Unglück oder den Tod gebracht? Trotzdem, mein Herz war aufgewühlt von einer unbestimmten Sehnsucht und von einem Gefühl, das ich nicht

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