Die Knochentänzerin
zitterte am ganzen Körper, meine Zähne schlugen aufeinander. »Seid Ihr … der Mann, der in Prag … den Dogen erstach?«
Wieder musste ich lange auf eine Antwort warten. In der Stille des Wartens hörte ich das Wasser von den Wänden tropfen. Endlich antwortete er: »Ich war in Prag, ja. Aber da sah ich einen Geist.«
Also doch. Wenn es stimmte, was der Doge mir erzählt hatte, dann gab es jetzt nur eine Wahrheit: Der Mann, zu dem man mich in dieses Verließ geworfen hatte, war mein Vater – derjenige, der mich nach meiner Geburt im Kloster auf einer einsamen Hebrideninsel ausgesetzt hatte, ein Spion, ein Mörder. Wegen ihm hatte ich die Knochen eines Märtyrers zerbrochen, war bei Nacht über ein Sturmmeer und um die halbe Welt geflohen, immer in der Hoffnung, ihn zu finden. Wie es schien, hatte ich ihn nun gefunden – in einem Kerker unter dem Dogenpalast. In absoluter Finsternis. Ich konnte ihn hören, würde ihn berühren können, wenn ich es wollte. Aber ich sah ihn nicht.
»Ich bin kein Geist. Ich erinnere mich an Euren Blick. Warum habt Ihr es getan?«
Wieder zunächst Stille. Dann die Worte: »Cailun. Wenn du es wirklich bist, dann nenn mir den Namen deiner Mutter.«
»Sinead.«
»Gütiger Gott im Himmel! Du bist also der Grund, warum es mich wider alle Vernunft hierhergetrieben hat. Irgendetwas in mir wusste …«
»Warum?«, brach es nun aus mir heraus. »Sagt mir, warum!«
Ein Geräusch kam aus der Finsternis, es war nah, aber trotzdem schwach, und ich konnte nicht sagen, welche Ursache es hatte. Hörte man hier wie in Icolmkill den Wind, wenn er um die Mauern strich, oder das Meer, wenn es zum Mond seufzte? Nein, dieses Geräusch war innerhalb des Kerkers entstanden, erzeugt von diesem fremden Mann, meinem Vater.
Nun sagte er: »Cailun, es herrscht Krieg …«
»Das meine ich nicht. Warum habt Ihr mich im Nirgendwo in einem Kloster ausgesetzt?«
»Weil auch damals schon Krieg herrschte! Was hätte ich tun sollen? Dich mit aufs Schlachtfeld nehmen?«
Mein Herz hörte auf zu pochen. In diesem Moment dachte ich, dass darin die gleiche Finsternis einzog, die im Kerker herrschte. Leise hörte ich mich sagen: »Ihr hattet versprochen, mich wieder von dort abzuholen. Warum habt Ihr dieses Versprechen nie eingelöst?«
»Cailun …« Er sprach nicht weiter. Ich stellte mir vor, wie er hilflos mit den Schultern zuckte. Das Tropfen des Wassers klang überlaut in der Stille.
Ich musste am Anfang beginnen. »Die Nonnen haben mir erzählt, Mutter sei bei meiner Geburt gestorben. Mehr weiß ich nicht von ihr, außer dass der Doge behauptet, sie sei böse gewesen und außerdem eine Hure.«
»Nein. Das war sie gewiss nicht. Du kannst stolz sein auf deine Mutter. Sie hat sich selbst getötet, damit du lebst.«
»Sie hat sich umgebracht?«
»Sie hat sich geopfert. Du konntest nicht aus ihr heraus, hättest dich selbst mit der Nabelschnur erdrosselt. Da nahm sie ein Messer und schnitt ihren eigenen Leib auf.«
Als ich das Bild vor Augen hatte, schnürte es mir die Kehle zu. So war es gewesen? So war ich auf die Welt gekommen – ich hatte gleichsam meine Mutter gezwungen, sich zu töten? »Das ist furchtbar«, konnte ich nur flüstern. »Wo wart Ihr da? Wart Ihr nicht bei ihr?«
»Cailun«, klang es gequält. »Klag mich nicht an, ich habe es selbst oft genug getan. Du musst Folgendes wissen. Ich habe sie geliebt, mehr als mein Leben. Doch ich konnte sie nicht glücklich machen. Ständig musste ich fort, es gab nur wenige gemeinsame Stunden. Es war wie jetzt. Es herrschte Krieg. Ich bin ein Ritter des englischen Königs Edward. Ich hatte nie eine Wahl. Ich habe es deiner Mutter erklärt: Wie könnte ich mich hinter einem Weiberrock verstecken, wenn die anderen kämpfen und für unser Land sterben? Es gibt Menschen, denen beschert das Schicksal ein glückliches gemeinsames Leben. So war es bei deiner Mutter und mir nie. Sie musste viel leiden wegen mir. Und jetzt du …«
»Woher wollt Ihr wissen, ob ich leide!«, brauste ich auf, weil mich seine Rede wütend machte. »Es ist mir doch egal …«
»Cailun …«
»Ihr seid ein Fremder, habt Euch nie gekümmert. Ich bin Euch ein einziges Mal begegnet, da habt Ihr einen Mann getötet und seid dann weggerannt! Und jetzt hier in der Dunkelheit … was glaubt Ihr bloß …?« Tränen erstickten meine Stimme. Die Wut auf diesen Mann, den ich nicht einmal sehen konnte, war wie aus dem Nichts gekommen – wie aus der Finsternis, in der ich glaubte, ebenso
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