Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Knochentänzerin

Die Knochentänzerin

Titel: Die Knochentänzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz-Josef Körner
Vom Netzwerk:
darüber und brach sich das Genick.
    Doch nichts dergleichen geschah. Vor meinem Fenster ging stattdessen ein fleckiger Halbmond auf, der sogleich seinen gewohnten Kampf mit den fliegenden Wolken aufnahm. Ich schaute eine Weile zu, beschäftigt mit der Frage, warum der Mond den Himmel in unterschiedlicher Gestalt betrat. Ob es wohl stimmte, dass ein hungriger Riese ihn Stück für Stück abnagte, und es dann wieder dauerte, bis er wieder wuchs, wenn der gesättigte Riese von ihm abließ? Ich grübelte über das Gebiss des Riesen nach. Dieses musste ein perfektes Halbrund sein, wenn der Mond nur eine Sichel war, sich dann aber immer mehr zu einer geraden Leiste wandeln, ließ der Hunger des Giganten langsam nach. Unsinn, dachte ich, so etwas gab es nicht. Der Grund musste ein anderer sein.
    Der Wind, der zunächst misstrauisch um die Burg schlich, gab langsam seine Vorsicht auf. Bald winselte er mal hier, mal dort im Gemäuer, dann jaulte er über dem schiefen Wehrgang wie ein getretener Hund, und schließlich heulte er den Mond an und fauchte in allen Mauerritzen. So dauerte es eine Weile, bis ich noch etwas anderes hörte oder es mir zumindest einbildete. Rief da jemand
Cailun?
    Ich lauschte. Bestimmt hatte ich mich getäuscht. Sollte ich froh darüber sein, dass der Wind meinen Namen sang – oder wollten die Geister des aufziehenden Sturms mich verhöhnen?
    »Cailun.«
    Es war nicht der Wind. Es sei denn, dieser hätte es vermocht, seinem Gesang etwas Flehentliches – etwas Hoffnungsloses – zu verleihen.
    »Cailun!«
    »Hier!« Trotz des Nordwindes, der Regentropfen wie Eisnadeln durch das schmale Fenster trieb, berührte etwas Warmes mein Herz.
    »Wo denn?«
    »Na, hier!«
    Ich steckte den Kopf durch das schmale Fenster. Meine Wangen schabten über rauen Stein, und der Wind wühlte in meinem Haar. Keine drei Armlängen von mir entfernt ragte Williams Vogelkopf wie ein Wasserspeier aus dem Mauerwerk.
    »Cailun!«
    »Wie oft sagst du es noch?«
    »So oft du willst. Deine Haare fliegen wie Flammen.«
    »Flammen fliegen nicht.« Ich musste lachen. Er sah rührend aus, wie er versuchte, dem Regen zu trotzen, der in sein Gesicht prasselte. Der Wind ohrfeigte ihn mit seinen eigenen nassen Haaren.
    »Mit wem teilst du deine Kammer?«, wollte er wissen.
    »Der Lord war generös. Er hat mich nicht mit seinem Gesinde in einen Verschlag gesteckt. Ich schlafe allein.«
    »Zu mir war er nicht so großzügig. Ich teile einen Schafspferch von einer Kammer mit fünf Burschen. Seltsamerweise waren sie verschwunden, als ich zurückkehrte.«
    »Zurück – wovon?«
    »Von den Klippen. Donnan von Eigg nächtigt dort in einer Höhle. Ich traue diesen Knechten nicht. Sie starrten den Sack an, als wäre er bereits ihr Eigentum.«
    Der Wind wuchs zum Sturm. Wieder einmal. Darin waren alle diese Inseln gleich. Sie wucherten aus dem Meer, wie mit pockenartigem Bewuchs überzogene Geschwüre, stemmten zerklüftete Klippen gegen die anstürmende See und duckten sich im immerwährenden Sturmwind. Genauso die Bewohner. Zäh, wettergegerbt, schief und verschroben, verzehrt von der ewigen Sehnsucht nach einem Land, das nicht von Klippen jäh begrenzt wurde – von der Hoffnung auf mehr als nur einen winzigen, verirrten Sonnenstrahl, nach bleibender Ruhe nach dem letzten Sturm. Doch da waren nur das verschorfte Stückchen Land, die Abfolge von Regengüssen und Stürmen und das zornige Meer.
    »Erzähl mir von dir.«
    »Jetzt?«
    »Warum nicht? Wer weiß, wann sich die nächste Gelegenheit ergibt.«
    »Der Wind ist zu laut. Und auch der Regen«, brüllte ich gegen den anschwellenden Sturm.
    Ich bekam keine Antwort. Stattdessen verschwand sein Kopf. Wahrscheinlich war es ihm zu nass da draußen. Ein wenig war ich enttäuscht. Mir hatte es nichts ausgemacht, mein Gesicht für seine Gesellschaft in den Sturm zu halten. Ihm wohl doch.
    Ich schüttelte den Regen aus meinen Haaren und tastete mich zurück in die Kammer. Es war stockdunkel, man sah die Hand nicht vor den Augen. Auf dieser verlassenen Insel hatte ich noch keinen einzigen Kienspan gesehen, noch kein Talglicht – geschweige denn eine Kerze. Das Feuer, über dem man den Hammel gebraten hatte, war längst verloschen. Hier hatte Gott vergessen zu sprechen: Es werde Licht.
    Irgendwie fand ich trotzdem den Strohsack in der Ecke. Ich streifte den Umhang ab, um ihn für das Nachtlager über mich zu decken. Trotz Dunkelheit kniete ich aus guter Gewohnheit nieder und dankte dem Herrn für

Weitere Kostenlose Bücher