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Die Knochentänzerin

Die Knochentänzerin

Titel: Die Knochentänzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz-Josef Körner
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erzählt, sie sei verhungert. Es gab wohl wirklich nichts zu essen in diesem Jahr.«
    Nun schwieg auch ich. Mir wollte nichts Tröstendes einfallen. Ich hatte wenigstens die Hoffnung, Vater wäre irgendwo dort draußen, und eines Tages würde ich ihn finden und in seine Arme sinken. Doch William? Welche Hoffnung blieb ihm?
    Er selbst war es, der wieder zu reden begann. Dabei zeigte er sich angriffslustig: »Ich weiß ja nicht, was besser ist. Eltern, die tot sind, oder ein Vater, der seine Tochter in einem Kloster aussetzt.«
    »Er hat mich nicht
ausgesetzt
!« Wenn ich die Gabe hatte, andere wütend zu machen, dann war sie ihm doppelt gegeben. Ich schimpfte: »Du hast wohl nichts vom Zehnt gehört?«
    »Doch. Du meinst den Zehnt, den jeder Bauer von der Ernte seinem Lord entrichtet.«
    »Nein, den meine ich nicht.
Ein ausersehenes Kind, das Zehntgeborene aus einer guten Familie, unserem Erlöser Jesus Christus und dem Konvent Icolmkill dargeboten. Man verfahre mit ihm, wie es Gott gefällt.
Es ist eine Ehre, dem Herrn zu dienen.«
    Ich hörte den Zweifel in seiner Stimme. »Das letzte Mal hast du mir eine andere Geschichte erzählt. Welche soll ich nun glauben?«
    »Diese natürlich«, erwiderte ich trotzig. »Es ist doch klar, dass ich einem dahergelaufenen Knochenräuber nicht gleich die ganze Wahrheit berichte. Man kann heutzutage nicht vorsichtig genug sein.«
    »Hm, und weiter?«, fragte William, was ich kaum hörte, weil der Sturm wieder stärker wurde.
    »Was weiter?«
    »Wie ging es dann weiter, mit dir und dem Kloster? Ich weiß kaum mehr als das, was ich mit eigenen Augen sah. Man schloss dich in die Kapelle ein – weiß Gott als Strafe für welche Untat –, wo du nichts Besseres zu tun hattest, als auf dem heiligen Donnan von Eigg herumzuhüpfen. Was geschah dazwischen? Ich meine,
zwischen
deiner Übergabe als Zehnt an den Herrn und deinem Knochentanz?«
    »Äbtissin Matilda entdeckte meine besondere Begabung«, antwortete ich ohne Zögern und wunderte mich selbst über meine Fantasie, die lospreschte wie ein erschrecktes Schaf.
    »Was gibt es da noch, außer deinem losen Mundwerk?«, grinste William.
    »Das würdest du wohl gerne wissen«, entgegnete ich schnippisch. »Ich sag’s dir. Ich verfüge über eine große Begabung beim Schreiben. Deshalb war mir die ehrenhafte Aufgabe zuteil, im Skriptorium des Klosters zu arbeiten.«
    »Skrip – was?«
    Ich seufzte, als wollte ich damit ausdrücken: Ich wusste es – ein dummer, ungebildeter Bauer. Dann erklärte ich gönnerhaft: »Skriptorium. Das kommt vom lateinischen Wort
scribere
, und das heißt schreiben. Im Kloster gibt es einen besonderen Saal, der so heißt. In Icolmkill befindet sich dieser ganz oben im Turm, wo es vor Angreifern am sichersten ist. Dort zu arbeiten ist höchst ehrenhaft, aber auch entbehrungsreich. Kerzen sind nicht gestattet, aus Sorge um die Sicherheit der Bücher. Stell dir vor, im Winter konnte ich mir dort nicht einmal die Hände wärmen.«
    Nun schien William doch beeindruckt, und er forderte mich auf: »Erzähl mehr.«
    Ich war geschmeichelt. »Nun gut. Als Schreiberin hat man einfache Werkzeuge: Tintenfass, Feder, Messer, Kreide, Lineal, Ahle und Schwamm. Und Pergament natürlich. In Icolmkill wird nur auf bestem Pergament geschrieben, nicht auf billigen Schafshäuten wie anderswo. Es gibt einen eigenen Pergamentmacher, der nur die besten Rinderhäute verwendet. Die sind vom Festland, weil es auf den Inseln kaum Kühe gibt.«
    »Was hast du geschrieben?«
    »Am Anfang war es meine Aufgabe, Inschriften zur Abschreckung von Dieben auf den Büchern anzubringen. Darin stand zum Beispiel, dass ein Dieb erkranken oder am Fieber sterben oder gehenkt oder aufs Rad geflochten werden würde.« Ich fügte drohend dazu: »So einer wie du.«
    »Und dann?«
    »Dann durfte ich immer wertvollere Bücher schreiben. Zum Schluss wurde mir die verantwortungsvollste Aufgabe von allen übertragen.« Ich legte eine bedeutungsvolle Pause ein und wartete, bis William sich vorbeugte und neugierig fragte: »Welche?«
    »Das Schreiben der Blätter für die Matildenbibel.«
    »Eine Bibel?« William klang enttäuscht. »Ich dachte in allen Klöstern werden Bibeln abgeschrieben. Das ist doch nichts Besonderes.«
    »Oh, doch. Du solltest Äbtissin Matilda sehen, wenn es um
ihre
Heilige Schrift ging. Sie übersetzt sie selbst ins Gälische, und es soll die erste Bibel in dieser Sprache überhaupt werden.«
    »Sie übersetzt die Heilige Schrift? Das

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