Die Knochentänzerin
nah? Direkt neben meinem Ohr. Vorsichtig drehte ich den Kopf. Es schmerzte. Dann fuhr ich ruckartig hoch und sprang auf.
»Was erlaubst du dir!« Der spitze Stein war seine Schulter gewesen, der Ast seine Hand.
»Nichts. Du hast geschlafen.«
Vorwurfsvoll fuhr mein Zeigefinger auf seine Schulter nieder. »Da?«
»Dein Kopf lag plötzlich einfach von selbst da«, mahlte seine Zunge. Dann verbesserte er: »Eigentlich ist er dahin gefallen.«
»Und deine Hand?«
»Damit musste ich deinen Kopf stützen.«
Ich schnaubte: »Dass du mich nicht wieder anfasst, ja?«
William hob abwehrend die Hände. Er sah zerknittert aus, doch wohlgelaunt. Er wies zunächst auf das schlaffe Segel und dann auf den Himmel, an dem ein bleigraues Morgenlicht emporkroch. »Von einem Sturm ist nichts mehr zu sehen, und das Ende der Welt haben wir auch noch nicht erreicht. Es besteht also Hoffnung.«
Hinter meiner Stirn pochte ein hartnäckiger Schmerz, und meine Kehle war wie ausgedörrt. »Ich habe Durst«, krächzte ich.
»Es ist noch Wein da«, antwortete William, nicht ganz ohne Häme.
Ich stöhnte als Antwort. Dann sah ich etwas. Ich deutete nach vorn: »Da.«
William kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. »Ich sehe nichts.«
»Doch!«, rief ich. »Eine Insel! Vielleicht trägt uns die Strömung dorthin!«
Tatsächlich, ich hatte mich nicht getäuscht. Eine unsichtbare Kraft zog uns zu einem Eiland. Als wir näher und näher kamen, konnten wir erkennen, dass sich die Insel, unbewehrt von Klippen, sanft aus dem Meer erhob. Es gab sogar einen schmalen Strand. Bald schabte der Bootskiel auf vom Wasser flachgeschliffenen Kieseln. Wir sprangen an Land und liefen unschlüssig ein paar Schritte, bis der Kies in einen schmatzenden Moosteppich überging. Dann lauschten wir in eine eigenartige Stille.
»Keine Möwen oder anderen Vögel«, konstatierte William, mit zum Himmel gewandtem Blick.
»Aber ein Haus – dort oben.« Meine Antwort war nur ein Flüstern.
William zuckte gleichgültig mit der Schulter und setzte sich in Bewegung. »Lass uns hingehen.«
Ich folgte ihm widerstrebend. Der halb zerfallene Steinbau musste einst eine Kapelle gewesen sein. Ich ließ meinen Blick schweifen. Das winzige Eiland wölbte sich kaum einen kräftigen Steinwurf weit in Länge und Breite. Wer, in drei Teufels Namen, hatte sich die Mühe gemacht, auf diesem Inselchen ein Gotteshaus zu errichten – und wozu? Auch gab es hier keine Steine, also musste – wer auch immer – alles Baumaterial mit dem Schiff gebracht haben. Es war höchst seltsam.
Kurz hinter William erreichte ich das Kirchlein. Das schmale Tor, das noch an einer rostigen Angel hing, war salzzerfressen und von Sturm und Regen halb zersetzt. Neben herabgestürzten Steinen lagen moosbewachsene Dachbalken. Als William die Tür anstieß, schwang diese jämmerlich ächzend nach innen. Zögernd trat ich hinter ihm ein. Sofort pfiff er überrascht und deutete auf etwas, das am Boden lag. Ich schrie.
»Sei doch still«, mahnte William fröhlich, als bereitete ihm der Anblick der beiden mit Moos, Flechten und Spinnweben überzogenen Skelette besondere Freude. »Aber tu mir den Gefallen, lauf zum Schiff und sieh nach, ob da irgendwo irgendwelche Säcke rumliegen.
»Du willst doch nicht etwa …?«
Der Knochendieb rieb sich die Hände und ging in die Hocke. »So ein Glück. Zwei vollständige Skelette. Noch zwei Donnans. Mit dem, den wir schon haben, bedeutet das dreifachen Verdienst.«
»Das ist nicht dein Ernst.«
William strahlte mich an, dann wanderte sein Blick zurück zu den Skeletten. Stirnrunzelnd und eingehend begutachtete er die Knochen. »Interessant«, meinte er schließlich. »Sehr interessant. Doch nicht
zwei
Donnans. Eher Herr und Frau Donnan. Wie sie wohl gestorben sind, auf dieser gottverlassenen Insel? Und warum?«
Erst nach einer Weile – und erst als ich es doch wagte, genauer hinzusehen – begriff ich, was er meinte.
Die Skelette hielten einander an den Knochenhänden.
15
Damit es ein Zeugnis wird, Wachs und Siegel
E in kalter Wind trieb unser Schiff nach Westen, sehr zur Zufriedenheit Williams, denn dort lag das Festland. Meine Frage, warum Schottland unser Ziel sei, beantwortete er mit einer Gegenfrage: »Wo glaubst du, ist der Bedarf an Reliquien am größten?«
»In Schottland?«, antwortete ich, ohne nachzudenken.
»Ich spreche nicht von einem Land. Ich meine die Kundschaft.«
»Du bist der Knochenhändler. Was fragst du mich?«
Er
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