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Die Knochentänzerin

Die Knochentänzerin

Titel: Die Knochentänzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz-Josef Körner
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vom Vortag zerknittert.
    Falieros Aufmerksamkeit galt einer anderen Sache. Seine Augen glitten über die Reihen der Ratsmitglieder, die mit versteinerten Mienen den kaiserlichen Ausführungen lauschten. Was in ihren Köpfen vorging, war unschwer zu erraten. Der Kaiser war ein Gast, mehr nicht. Er mochte noch so sehr Macht und Einfluss des Römischen Reichs unter seiner Herrschaft betonen – die Serenissima verfügte über nicht weniger Bedeutung im Weltgefüge. Also hörte man geduldig zu und dachte sich seinen Teil.
    »Ich sehe Oradini nicht«, knurrte Faliero nun zwischen den Zähnen.
    Der Leibwächter zu seiner Rechten, ein bulliger Mann mit den Narben eines Kriegers und Schlägers, schüttelte den Kopf. »Er ist nicht hier. Hat sich heimlich verzogen, kurz bevor der
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auf den Hof kam.«
    »Er ist Böhme, nicht Deutscher«, erwiderte Faliero mehr zu sich selbst. Er überlegte, was Oradinis Verschwinden bedeutete. Hatte er keine Lust, einen Vortrag über niedergeschriebene Wahlregularien zu hören, oder gab es da ein Geheimnis, von dem niemand wissen sollte? Faliero hatte ein untrügliches Gefühl dafür, ob es sich lohnte, einer Sache auf den Grund zu gehen. Dieser siebte Sinn sagte ihm, Oradinis Davonschleichen war in irgendeiner Weise von Bedeutung.
    »Kommt mit«, befahl er seinen Leibwächtern. Er drehte sich langsam um, lief durch den Saal des Großen Rates und verließ den Dogenpalast durch einen Seiteneingang.
    In seinem Palazzo angekommen, tauschte er sein Festgewand gegen unauffällige, abgetragene Kleidung, die er nur für solche Zwecke aufbewahrte. Gleich darauf verließ er sein Haus wieder, die Leibwächter folgten ihm wie Schatten. Er überquerte die Holzbrücke, die den Canal überspannte, und tauchte in das Chaos der überfüllten Gassen ein. Ständig musste er nicht nur Fußgängern ausweichen, sondern auch Pferdefuhrwerken, deren Zahl in Venedig überhandnahm. Gefährlich wurde es, wenn ein Gespann von hinten ankam und der Fuhrknecht es eilig hatte, was natürlich stets der Fall war. Nicht selten kam es vor, dass Menschen überfahren wurden – auch das Gebot von Pferdeglocken, das er eigenhändig erlassen hatte, verbesserte die Lage kaum – das Gebimmel war so allgegenwärtig, dass es als Warnung kaum mehr taugte.
    Oradinis Haus lag, wie die Palazzi der meisten Räte, am Canal Grande. Doch Faliero hatte aus zweierlei Gründen den Fußweg gewählt. Zum einen konnte er eine Biegung der Wasserstraße, die sich wie eine Schlange durch die Stadt wand, abkürzen, zum anderen wollte er Oradini nicht durch den Haupteingang besuchen. Es sollte eine Überraschung sein.
    Er überquerte eine weitere Holzbrücke, folgte einer Gasse bis zu einer Abzweigung, wo er links abbog. Hier war es ruhiger, es war zu eng für Fuhrwerke, und auch Menschen schienen diesen Ort zu meiden. Faliero blickte sich um, dann winkte er seinen beiden Schatten und betrat einen engen Hof. Einer der Leibwächter trat neben einen Brunnenschacht und entfernte die Holzabdeckung. Der zweite nahm eine Leiter, die an der Hauswand lehnte, und ließ sie in den Schacht hinunter. Dann entzündete er eine Fackel und kletterte auf einen Wink seines Herrn die Leiter hinunter, gefolgt von seinem Kompagnon und Faliero.
    Faliero liebte das Netz der unterirdischen Gänge – nicht nur aus praktischen Gründen, sondern auch, weil er ihnen metaphorische Bedeutung beimaß. Welch treffenderes Bild gab es für diese Stadt, die an ihrer Oberfläche mit einer Pracht glänzte, im Innersten jedoch an vielen Stellen so unendlich faulte. Faliero verglich sie mit seiner Hure: äußerlich von solch strahlender Schönheit, dass man in ehrfürchtigem Staunen erstarrte, unter all dem schönen Schein aber von einer Verdorbenheit, die Satan selbst zur Ehre gereichte. Eine faszinierende Verbindung, wie er befand, und für ihn gab es nichts Verlockenderes als diese beiden Gegensätze nebeneinander.
    Faliero folgte dem Schein der Fackel, der auf tropfenden Wänden hüpfte und über knöcheltiefen, stinkenden Schlamm flackerte. Es stank beißend, eine bestialische Geruchsmischung aus Abfall, Ausscheidungen und Abwasser. Man hörte das Piepsen von Ratten und sah an den wenigen trockenen Stellen ihre huschenden Schatten. Meist galt es, gebückt zu gehen, doch immer wieder mussten die Männer auf allen vieren kriechen, wenn die Tunneldecke sich niedersenkte. Zur Orientierung gab es nur eine Möglichkeit; man zählte die Quergänge, die von links und rechts

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