Die Knopfmacherin
Mondschein spiegelte sich in den Regenpfützen, die allmählich zu trocknen begannen.
In Udenheim, wo ihr jede Gasse vertraut war, hatte sie keine Angst davor gehabt, im Dunkeln durch die Stadt zu laufen. Speyer dagegen war ihr unbekannt. Ihr Unwohlsein brachte sie beinahe dazu, ihren Plan zu verwerfen. Aber dann erinnerte sie sich wieder an den verzweifelten Schrei ihrer Schwester.
»Ich muss Alina finden!«, flüsterte sie sich selbst zu und richtete den Blick dann auf den Mond. »Lieber Gott, bitte hilf mir dabei.«
Als wäre ihr Gebet erhört worden, hatte sie plötzlich einen Einfall. Eine Frau würde sich vielleicht vor den dunklen Gassen fürchten müssen. Aber wenn sie sich in einen Mann verwandelte?
Zufällig hatte Grete an diesem Morgen die Wäsche gemacht. In die Beinkleider des Meisters passte Melisande nicht, doch Bernhard, obwohl er etwas größer war, hatte eine ähnlich schlanke Figur wie sie.
Dem Wäschekorb in der Küche entströmte ein frischer Wiesenduft, als Melisande die Kleidungsstücke nach etwas Brauchbarem durchwühlte. Es dauerte eine Weile, bis sie ein Hemd fand, in dem sie nicht versank, und genauso sollte es sich mit den Beinkleidern verhalten.
Ein Geräusch hinter ihr ließ sie mitten in der Bewegung erstarren. Was sollte sie dem Meister sagen, wenn er sie hierbei erwischte?
Langsam wandte sie sich um. Doch der Schatten vor dem Fenster war nur der Umriss der Nachbarskatze, die es sich auf dem Fensterbrett gemütlich machte.
Nach langer Suche entdeckte sie schließlich die braunen Beinkleider des Gesellen. Sie anzuziehen verursachte ihr zunächst ein wenig Scham, aber dann stellte sie fest, dass dieses Kleidungsstück sehr bequem war. Nachdem sie sich auch das Hemd übergezogen hatte, strebte sie der Tür zu, wo der Mantel hing, den der Meister immer trug, wenn er außer Haus ging. Der Geruch nach Bratenfett und Kochdunst überlagerte den Wiesenduft augenblicklich.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass sich im Haus nichts rührte, schlüpfte Melisande nach draußen. Mondlicht erhellte den Weg zum Tor, dessen Angeln beim Öffnen leise quietschten. Das klägliche Jaulen eines Hundes in einem Hinterhof ließ sie erschaudern. Den Mantel fest vor der Brust zusammengerafft, wechselte sie hinüber zur anderen Straßenseite, die im Schatten lag. Dann marschierte sie die Straße hinunter.
Das Gesicht von Joß Fritz stand ihr deutlich vor Augen. Mit einem Mal überkamen Melisande Zweifel. Vielleicht hat er sich geirrt?, überlegte sie. Vielleicht ist Alina gar nicht in Speyer und ich werde sie nie wiedersehen?
Doch da erwachte etwas in ihrer Brust. Die Wärme, die ihr Herz umfing, schien ihr sagen zu wollen, dass noch nicht alles verloren war.
Ich werde meine Schwester finden, sagte sich Melisande entschlossen. Und wenn ich jeden einzelnen Stein in dieser Stadt umdrehen muss.
Als sie auf dem Domplatz stand, schlug die Glocke der Kirchturmuhr elf Mal. Melisande blickte sich suchend um. In welche Richtung sollte sie ihre Schritte lenken? Zum Gotteshaus?
Der leere Platz kam ihr auf einmal unendlich groß vor.
Als sie Stimmen vernahm, huschte sie zunächst in eine Seitengasse. Zwei Männer torkelten wenig später an ihr vorbei, ohne Notiz von ihr zu nehmen. Melisande wartete, bis sie sich ein Stück entfernt hatten, dann tauchte sie wieder aus der Gasse auf.
Unvermittelt kam ihr eine Idee. Die beiden Männer schienen dem Wein ziemlich zugesprochen zu haben. Vielleicht war es kein schlechter Gedanke, nach einer Schenke zu suchen!
Nachdem sie sich kurz orientiert hatte, schlug sie die Richtung ein, aus der die Männer vermutlich gekommen waren. In einer Gasse traf sie auf zwei Hunde, die wütend miteinander rangen, jeder in das Fell des anderen verbissen. Rasch huschte sie an ihnen vorbei, denn sie wollte sich nicht aus Versehen einen Biss einfangen. Nachdem sie durch drei weitere Gassen gelaufen war, tönte ihr Fidelklang entgegen. Irgendwo dahinten musste eine Schenke sein. Sie verließ sich ganz auf ihre Ohren und lief weiter, bis schließlich ein Lichtschein vor ihr auftauchte.
Aus dem gedrungenen Fachwerkhaus mit den Butzenscheiben drang lautes Gelächter. Hier war sie gewiss richtig. Vielleicht hatten die Leute die Soldaten und Alina beobachtet? Vielleicht erkannten sie sogar den Knopf wieder?
Auf dem Weg zur Tür torkelten ihr erneut zwei Männer entgegen, die einander untergehakt hatten, um sich so vor dem Umkippen zu bewahren. Ein Dunstgemisch aus Speisen, saurem Wein und
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