Die Köchin und der Kardinal
sie auf. Die Kerze war fast ganz heruntergebrannt. Sie war allein auf der Welt, nie wieder würde sie hier herauskommen! Der Schlaf übermannte sie erneut, sie war eine der Figuren auf dem Schiff, eiskalt, steif gefroren, tot, mit den anderen Toten auf dem Weg ins Nichts.
Wütend betrat der Kommandant den Rittersaal, in dem das Frühstück serviert wurde. »Jetzt ist schon September, die Belagerung dauert mehr als drei Monate!«, wetterte er.
»Der Weimarer ist krank und hat sich ins Elsass zurückgezogen. Aber seine Generäle passen auf wie die Schießhunde, noch besser als er selbst. Das ist jetzt schon der vierte Versuch von meinem General, uns Lebensmittel in die Festung zu bringen. Wozu hat man denn sieben Reiterregimenter, wenn es keines von ihnen schafft, uns zu versorgen?«
»Wir müssen die Lebensmittel noch besser rationieren, Hans Heinrich«, wandte Jakob ein. Der Kommandant setzte sich und griff nach einem Hühnerschenkel.
»Die Weimarer sind so unglaublich dreist«, zischte der Kommandant mit vollen Backen. »Haben sie doch zwei Schiffsbrücken über den Fluss gebaut und den Rhein mit Ketten abgesperrt. Dann lässt er Lager ausbauen und zwingt die Leute aus den Dörfern und aus der Stadt dazu, ihm zu helfen. Sogar Handwerker hat er dafür angeworben.«
Jakob konnte es nicht mehr hören. Er hatte Sehnsucht danach, allein zu sein. So aß er sein Brot und seinen Mehlbrei mit Speck und zog sich alsbald vom Tisch zurück. Er trat nach draußen und schaute von der Plattform, auf der sich auch das Münster befand, ins Land hinaus. Die Menschen, die er aus der Ferne wie Ameisen herumlaufen sah, bewegten sich langsamer als sonst. Gewiss waren auch sie sehr vom Hunger geplagt und allmählich schwächer geworden. Jakob wusste nicht, wie lange er in dieser Lage noch durchhalten würde. Er konnte die Launen und das Gebaren des Kommandanten nicht mehr ertragen, seinen Geiz und seine Rohheit, nicht die Gier der Offiziere und Soldaten, das langsame Hinsiechen der Bevölkerung, den Geruch nach Verwesung, der sich von Tag zu Tag stärker ausbreitete und das anmaßende Auftreten von Agnes. Wie, wenn er wirklich mit allen anderen hier verhungern würde? Oder bei einem Durchbruch der Weimarer zu Tode kam? Ihm fiel etwas ein. Wenn es einen Geheimgang zu dem Burggraben gab, konnte es nicht noch einen zweiten geben? Die Burg war alt, sie stammte aus der dunklen Zeit. Und wo würde so ein Geheimgang zu finden sein? Jakob beschloss, sich den Keller einmal näher anzusehen. Wenn jemand ihn fragte, was er dort zu suchen hätte, konnte er sagen, dass er den Inhalt der Weinfässer überprüfen wolle, auch wenn das gar nicht seine Aufgabe, sondern die des Truchsessen war. Er kehrte zur Burg zurück, überquerte den Hof und schaute noch einmal kurz zu Ferdl hinein. Wenigstens gab es noch genügend Gras und Heu in der Stadt, aber bald würden die Leute wohl anfangen, es zu essen. Es schien Jakob, als gäbe es keine Katzen und Hunde mehr in der Stadt.
Nachdem er Ferdl getätschelt und mit ihm gesprochen hatte, ging er in die Burg hinein und wandte sich zur Kellertreppe. Er nahm eine Fackel aus der Halterung an der Wand und stieg die Stufen hinab. Hier unten war die Luft kühl und feucht. Die Wände waren mit Schimmel bedeckt. Gegenüber vom Weinkeller zweigte ein Gang ab, dem Jakob folgte. Es roch zunehmend nach Kot und Urin. Er gelangte in einen großen Raum mit vielen Verschlägen an beiden Seiten. In der Mitte saß ein Soldat auf einem Schemel und kaute auf einem Stück Brot herum. Schlagartig wurde Jakob bewusst, dass es Gefängniszellen sein mussten. Jakob sah viele Männer, manche bis zum Skelett abgemagert. Sie kauerten oder lagerten im schmutzigen Stroh, manche wiegten sich hin und her, andere starrten ausdruckslos vor sich hin.
»Was sind das für Gefangene?«, fragte Jakob den Wächter entsetzt.
»Es sind Gefangene vom Belagerungsheer des Weimarers«, antwortete der Wächter.
»Werden sie denn wenigstens versorgt, wenn sie schon so unmenschlich hier hausen müssen?«, fragte Jakob weiter.
»Sie bekommen täglich ihr Brot, ihr warmes Essen und Wasser«, gab der Mann zurück.
Jakob trat dicht an eine der Zellen. Er sah Reste von verschimmeltem Brot und einen Topf mit etwas darin, das er nicht einmal einer Ratte angeboten hätte. Die Suche nach dem Geheimgang hatte Jakob ganz vergessen. Er stürmte zurück zur Treppe und lief die Treppen hinauf in den ersten Stock, wo er den Kommandanten immer noch beim Frühstück im
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