Die Könige: Orknacht (Die Könige 1) (German Edition)
entlocken, das dieser nicht preisgeben wollte.
Überhaupt sprachen sie unterwegs nur noch wenig: Dag, weil er damit beschäftigt war, einen Fuß so vor den anderen zu setzen, dass er auf dem unebenen und von Wurzelwerk überwucherten Boden nicht stürzte; der Prediger, weil er tief in Gedanken versunken schien, und Dag hatte das untrügliche Gefühl, dass dies mit jener fliegenden Kreatur zu tun hatte. Zwar waren sie dem abscheulichen Wesen bislang nicht wieder begegnet, die Bedrohung jedoch schien noch immer gegenwärtig, und dies umso mehr, als sie den Wald nun bald verlassen und dann ohne Deckung sein würden – und dieser Gedanke gefiel Dag ganz und gar nicht.
»Darf ich Euch etwas fragen?«, erkundigte er sich daher, als sich der Tag einmal mehr dem Ende neigte.
»Hm?«
»Wie weit müssen wir noch marschieren?«
»Das kommt ganz darauf an.«
»Worauf?«
»Wann das geschieht, worauf ich warte.«
»Und worauf wartet Ihr?«
»Hm«, machte der Alte wieder, gleichermaßen nachdenklich wie unheilvoll. »Fragen. Immer nur Fragen.«
Plötzlich blieb er stehen.
»Was ist?« Dag senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »Wieder eine dieser Kreaturen?«
»Nein. Wir werden beobachtet. Und falls es dich tröstet – ich kann unsere Beobachter ebenso wenig sehen wie du.«
»Wo-woher wisst Ihr dann, dass …?«
»Ich kann es fühlen, genau wie du.«
»Aber ich fühle nichts«, versicherte Dag.
»Sei kein Narr. Warte nicht darauf, dass das Augenlicht zu dir zurückkehrt, sondern arbeite mit dem, was dir geblieben ist: mit deinem Herzen, deinem Verstand und deinen übrigen Sinnen. Gebrauche sie, und dann sage mir, was du vor deinem inneren Auge siehst.«
Dag wollte energisch protestieren und dem Alten sagen, dass er keine Ahnung hätte, wovon er redete – er war es schließlich nicht, der mit Blindheit geschlagen war und sich wie ein Maulwurf durch das helle Tageslicht wühlen musste. Aber er widerstand der Versuchung und blickte stattdessen in sich hinein: auf das, was sein Gehör und sein Geruchssinn ihm lieferten; auf das Bild, das sein Verstand und seine Vorstellungsgabe daraus formten; und auf das Gefühl, das sich daraus ableitete …
»Und?«, hakte Dwethan nach. »Bemerkst du es auch?«
Dag blieb eine Antwort schuldig, aber da war tatsächlich etwas, das er spürte, so wie er auf dem Weg zurück zur Höhle die Anwesenheit des Alten gefühlt hatte oder die Präsenz jener finsteren Kreatur. Und mit jedem weiteren Augenblick, der verstrich, verstärkte sich das Gefühl, wurde zur Gewissheit.
Sie waren nicht allein auf der Lichtung!
»Es ist gut«, rief Dwethan in diesem Moment, »gebt euch zu erkennen!« – und überall ringsum war ein Knistern und Rascheln zu vernehmen, das davon zeugte, dass sich mindestens ein Dutzend Gestalten in Laub, Gestrüpp und Farnblättern verborgen gehalten hatten. Gestalten, die jetzt aus ihren Verstecken krochen und sich zu ihrer vollen Größe aufrichteten. Und das Knirschen von Leder und das leise Klirren von Metall verrieten Dag, dass sie bewaffnet waren.
»Dwethan!«, rief einer von ihnen – offenbar war der alte Prediger kein Unbekannter in dieser entlegenen Gegend. »Da seid Ihr ja endlich! Und wie ich sehen kann, habt Ihr gefunden, wonach Ihr gesucht habt!«
Dag hielt den Atem an.
Er hatte die eine Überraschung noch nicht verwunden, da brach bereits die nächste über ihn herein – denn die Stimme, die diese Worte sprach, hätte er unter Tausenden herausgekannt.
»A-Alured?«, murmelte er, ungläubig und zaghaft, weil es jeder Vernunft widersprach – wie sollte der Freund, der seinerzeit in den Wirren von Ansun zurückgeblieben war, ausgerechnet hierher gefunden haben?
»Ich wusste, dass Ihr mich erkennen würdet, Herr«, kam die Antwort prompt – und ohne dass ihn jemand dabei geführt hätte, trat Dag vor, breitete die Arme aus und schloss sie um den verloren geglaubten Freund. »Alured! Mein guter Alured!«
»Daghan! Endlich sehe ich Euch wieder!«
Tränen traten Dag in die Augen, und für einen Moment hatte er den Eindruck, den Freund tatsächlich vor sich zu sehen – das schmale Gesicht mit dem blonden Haarschopf und den strahlend blauen Augen, die Narbe, die über seine linke Wange verlief, seit sie als Kinder etwas zu eifrig den Umgang mit dem Schwert geübt hatten – noch ohne zu ahnen, wie überlebensnotwendig diese Fertigkeiten dereinst werden würden. Die Kleidung des Freundes allerdings war in seiner Erinnerung eine
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