Die Königliche (German Edition)
bestätigte er. »Aber es ist nicht verboten. Jetzt komm rein. Das, was ich heute Nacht stehlen will, wird dir gefallen.« Er schob die Tür auf und forderte sie mit einer Geste auf, einzutreten in das gelbe Licht, den Dampf, den Geruch nach Körpern und muffiger Wolle und ein leises Raunen, das Bitterblue vorwärtszog: die Stimme einer Fabuliererin.
Auf dem Tresen und den Tischen dieses Erzähllokals standen Töpfe und Eimer, die vom leisen Rhythmus fallender Regentropfen widerhallten. Bitterblue warf einen misstrauischen Blick an die Decke und blieb am Rand des Raumes stehen.
Die Fabuliererin war eine untersetzte Frau mit einer tiefen, melodischen Stimme. Die Geschichte war eine von Lecks alten Tiererzählungen: ein Junge in einem Boot auf einem zugefrorenen Fluss. Ein fuchsiafarbener Raubvogel mit silbernen Klauen wie Enterhaken – ein riesiges, faszinierendes, boshaftes Wesen. Bitterblue hasste die Geschichte. Sie erinnerte sich daran, wie Leck sie ihr erzählt hatte – oder eine sehr ähnliche. Sie sah Leck beinahe da auf dem Tresen vor sich, ein Auge bedeckt, das andere grau, leidenschaftlich und mitfühlend.
Da blitzte plötzlich ein Bild in ihren Gedanken auf: das schreckliche Überbleibsel des Auges hinter Lecks Augenklappe.
»Komm schon, lass uns gehen«, sagte Saf. »Sparks. Ich bin hier fertig. Lass uns gehen.«
Bitterblue hörte ihn nicht. Leck hatte die Augenklappe nur einmal lachend vor ihr abgenommen und etwas von einem Pferd gesagt, das ausgeschlagen und ihn getreten hatte. Sie hatte seinen blutunterlaufenen Augapfel gesehen und gedacht, dass das lebhafte Karminrot der Pupille ein Blutfleck war und nicht der Schlüssel zu der ganzen Wahrheit. Ein Schlüssel, der erklärte, warum sie sich so oft so schwerfällig, dumm und vergesslich fühlte – vor allem, wenn sie mit ihm zusammen war und ihm zeigen wollte, wie gut sie lesen konnte, um ihm zu gefallen.
Saf fasste sie am Handgelenk und versuchte sie mitzuziehen. Plötzlich wurde sie hellwach. Sie holte nach ihm aus, aber er packte auch ihr anderes Handgelenk, hielt sie mit beiden Händen fest und murmelte leise: »Sparks, kämpf nicht hier drin mit mir. Warte, bis wir draußen sind. Lass uns gehen.«
Wann war der Raum so voll und heiß geworden? Ein Mann, der sich zu nah an sie schmiegte, sagte mit übertrieben sanfter Stimme: »Macht dir dieser Goldkerl Schwierigkeiten, Junge? Brauchst du einen Freund?«
Saf drehte sich knurrend zu dem Mann um. Der wich mit erhobenen Händen und Augenbrauen zurück und gab sich geschlagen, und jetzt war es Bitterblue, die Saf packte, als dieser auf den Mann losgehen wollte. Sie fasste ihn absichtlich an seinem verletzten Arm, um ihm wehzutun und seine Wut auf sie zu lenken, da sie wusste, dass er ihr im Gegensatz zu den anderen nichts tun würde.
»Hör auf«, sagte sie. »Lass uns gehen.«
Saf keuchte. Tränen glänzten in seinen Augen. Sie hatte ihm stärker wehgetan als beabsichtigt, aber vielleicht nicht stärker als nötig; und es spielte auch keine Rolle mehr, denn jetzt machten sie sich auf den Weg nach draußen, zwängten sich zwischen den Leuten durch und schoben sich in den Regen.
Draußen rannte Saf los, bog in eine Gasse ab und kauerte sich unter ein schützendes Vordach. Bitterblue folgte ihm und stand über ihm, während er den Arm an die Brust presste und fürchterlich fluchte.
»Tut mir leid«, sagte sie, als er schließlich von Wörtern zu tiefen Atemzügen überging.
»Sparks.« Noch ein paar tiefe Atemzüge. »Was war dadrinnen los? Du warst wie weggetreten und hast kein Wort von dem gehört, was ich zu dir gesagt habe.«
»Teddy hatte Recht«, sagte sie. »Es hat dir geholfen, dass du dich um mich kümmern musstest. Und ich hatte auch Recht. Du brauchtest jemanden, der sich um dich kümmert.«
Dann hörte sie ihre eigenen Worte und schüttelte den Kopf, um ihn frei zu bekommen. »Es tut mir wirklich leid, Saf – ich war woanders. Diese Geschichte hat mich fortgetragen.«
Saf stand vorsichtig auf. »Ich zeige dir etwas, das dich zurückbringt.«
»Du hattest Zeit, etwas zu stehlen?«
»Sparks, das dauert doch nur einen Augenblick.«
Er zog eine goldene Scheibe aus der Manteltasche und hielt sie unter eine flackernde Straßenlaterne. Als er die Scheibe aufklappte, nahm Bitterblue seine Hand und drehte sie leicht, damit sie besser sehen konnte, was sie vor sich zu haben glaubte: eine große Taschenuhr mit einem Zifferblatt, das nicht zwölf, sondern fünfzehn Stunden
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